Das Parlament: Vor dem Hintergrund der jüngsten Diskussionen um den steigenden Einfluss von Lobbyistengruppen in parlamentarischen Entscheidungsprozessen: Welches Repräsentationsverständnis liegt der Arbeit der Abgeordneten zugrunde?
Michael Edinger: Uns hat überrascht, dass doch jeder Zweite sagt, dass er sich in erster Linie als Vertreter des gesamten Landes sieht, erst an zweiter Stelle der Wahlkreis genannt wird und die Partei weniger bedeutsam ist. Auffallend ist, dass unter den Bundestagsabgeordneten die Wahlkreisorientierung, entgegen dem, was man annehmen würde, etwas stärker ist, als bei den befragten Landtagsabgeordneten. Bei den kleineren Parteien spielt die Wahlkreisorientierung eine geringere Rolle, weil man hier keine oder kaum Chancen auf ein Direktmandat hat. Unter den Europaabgeordneten sieht sich eine deutliche Mehrheit als Vertreter des europäischen Volkes und kaum jemand versteht sich primär als Vertreter Deutschlands. Wenn es aber um das Abstimmungsverhalten bei Interessenkonflikten zwischen nationalen Interessen und Fraktionsinteressen geht, dann räumt doch eine ganze Reihe von Abgeordneten mitunter den nationalen Interessen Vorrang ein.
Das Parlament: Die Frage, wessen Repräsentant man ist, hat ja nicht nur etwas mit konkreten politischen Einstellungen zu tun, sondern auch mit den Möglichkeiten ihrer Realisierung: Was beeinflusst die Zufriedenheit der Abgeordneten negativ?
Michael Edinger: Es wird offenbar ein erhebliches Spannungsfeld zwischen der Ausübung des Mandats und der Gestaltung des Privatlebens gesehen. Außerdem wird als belastend empfunden, dass man relativ wenig Zeit zur Verfügung hat, um über Probleme vertiefend nachzudenken zu können. Tatsächlich müssen Abgeordnete manchmal von einem Termin zum nächsten eilen und dann bleiben eben wenig Möglichkeiten, inhaltliche Fragen tiefergehend zu reflektieren. Ein kleinerer Teil der Abgeordneten gibt auch an, dass sie die unzureichende Akzeptanz in der Öffentlichkeit als ein Problem empfinden.
Das Parlament: Gibt es Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Politikern hinsichtlich der Arbeitszufriedenheit und der wahrgenommenen Gestaltungsmöglichkeiten?
Michael Edinger: Etwa 25 Prozent der Westdeutschen geben an, dass sie geringere politische Einflussmöglichkeiten haben als ursprünglich erwartet. Bei den Ostdeutschen sind es 45 Prozent der Befragten. Das hat sicher auch damit zu tun, dass Westdeutsche meist sehr lange Parteikarrieren hinter sich haben, wenn sie ins Parlament kommen. Die dabei gesammelten Erfahrungen begünstigen "realistischere" Erwartungen bezüglich der Gestaltungsmöglichkeit eines Abgeordneten. In der Gründungssituation des ostdeutschen Parlamentarismus waren hingegen viele Abgeordnete Neulinge und sind dann relativ unverhofft in die Parlamente gekommen und dann eben möglicherweise mit sehr hohen Erwartungen. Das diese Erwartungen teils enttäuscht wurden, erklärt vielleicht, weshalb der Anteil zufriedener Parlamentarier im Osten niedriger ist als im Westen.
Das Parlament: Mit den Gestaltungsmöglichkeiten im Zusammenhang steht die Frage des Fraktions- oder Parteizwanges. Gerade für Regierungsparteien eine schwierige Frage.
Michael Edinger: Wir haben unter anderem gefragt, ob ein Abgeordneter mit der Fraktion stimmen sollte, auch wenn er eigentlich anderer Meinung ist. Dem haben etwa 70 Prozent zugestimmt. Zugleich gibt aber auch jeder Zweite an, dass er schon einmal bei einer wichtigen Abstimmung gegen die eigene Fraktion gestimmt hat. Sogar die Mehrheit derjenigen, die schon einmal gegen die eigene Fraktion gestimmt hat, sagt, dass man das eigentlich nicht tun sollte. Offenkundig gibt es da recht ambivalente Positionen. Einen deutlichen Unterschied gibt es im Ost-West-Vergleich: 60 Prozent im Osten haben schon mal gegen die Fraktion gestimmt, im Westen nur 40 Prozent. Am häufigsten findet sich das abweichende Abstimmungsverhalten bei der PDS und am seltensten bei den Bündnisgrünen.
Das Parlament: Was haben die Befragten als Motive ihres politischen Engagements angegeben?
Michael Edinger: Die politische Orientierung und der politische Gestaltungswille spielen natürlich eine wichtige Rolle bei einem Parteieintritt. Interessant für uns war aber, dass unter den Parlamentariern nur eine Minderheit angibt, dass sie die Wahl ins Parlament als einen Einstieg in eine langfristige politische Karriere verstanden hat. Zwei Drittel haben ihr erstes Mandat vielmehr als eine vorübergehende Tätigkeit in der (bezahlten) Politik verstanden. Das spricht eher für das Parlamentsmandat als Episode. Nur ein Drittel sagt, dass sie das bewusst gemacht haben, um längerfristig Karriere zu machen.
Das Parlament: Gibt es auch bei den Motiven so eine Anpassung an die Realitäten?
Michael Edinger: Was sich jetzt schon andeutet, und was wir aus den Karrieredaten und den biografischen Daten wissen, ist, dass sich das Karriereverhalten sehr stark angeglichen hat, gerade im Ost-West-Vergleich. Das heißt, dass gerade ostdeutsche Abgeordnete der Gründungsphase manche Erwartungen, die sie am Anfang gehegt haben, möglicherweise aufgegeben mussten, um auf die Herausforderungen der parlamentarischen Praxis adäquat zu reagieren. Man hat im Osten, vereinfacht gesprochen, zwei Typen: Den einen, der eher frustriert ist wegen dieses Unterschiedes. Das sind allerdings auch häufig Leute, die, sei es freiwillig oder unfreiwillig, aus dem Parlament ausgeschieden sind. Dann gibt es Leute, die pragmatisch damit umgegangen sind und sich diesen Zwängen, die mitunter existieren, angepasst haben und aus den Möglichkeiten das Beste machen und damit auch bessere Chancen haben, im Parlament zu bleiben.
Das Parlament: Wird Politik mehr zu einem normalen Beruf, indem sich Karrierechancen eröffnen, oder geschieht das Engagement aus Berufung?
Michael Edinger: Wir haben Ergebnisse, die beides bestätigen. Wir haben die Abgeordneten gefragt, ob sie glauben, dass das Parlamentarierdasein ein richtiger Beruf ist. Da gab es eine überwältigende Zustimmung. Mehr als zwei Drittel stimmten dem sehr zu. Entgegen steht dem, was wir vorhin schon sagten, dass zwei Drittel sagten, dies nicht als Einstieg in eine dauerhafte Laufbahn verstanden zu haben. Wenn man sich die Nebentätigkeiten anschaut, so gehen doch fast 30 Prozent der Befragten einer solchen nach. Verbreitet ist das besonders unter Freiberuflern, die ihren früheren Beruf auf einem geringeren Stundenniveau weiter ausüben.
Dieses Ergebnis lässt eher zweifeln, ob es sich bei der Politik um einen normalen Beruf handelt. Offenbar sehen doch viele Parlamentarier die Notwenigkeit, sich abzusichern gegen die Risiken, die das politische Geschäft mit sich bringt. Vielleicht kann man einen Binnenunterschied machen zwischen den Parlamentarieren. Man hat die Gruppe der Episodiker, die sowieso nur kurz im Parlament sind und dann zurück in ihren Ursprungsberug gehen. Und dann hat man die Gruppe der "knallharten" Berufspolitikern, die also sozusagen von Jugendbeinen an, Politik zu ihrer Hauptaufgabe und damit wirklich zum Beruf gemacht haben - wobei dann möglicherweise Beruf und Berufung zusammenfallen. Und die haben, würde ich sagen, in der Regel gute Chancen, wenn sie einmal ins Parlament gekommen sind, dort oder in verwandten Positionen zu bleiben.
Das Parlament: Wie reflektiert man als Forscher denn Aussagen über die extrem hohe Arbeitsbelastung?
Michael Edinger: Das sind natürlich Selbstauskünfte, wo man schon davon ausgehen muss, dass sie auch von sozialer Erwünschtheit gesteuert sind. Uns kam es aber auch weniger auf das absolute Niveau an, also ob nun ein Abgeordneter 55 oder 58 Stunden arbeitet. Interessant sind vielmehr die Unterschiede, die sich darstellen und die erscheinen recht plausibel. Bundestagsabgeordnete arbeiten eben mehr als Landtagsabgeordnete, Parlamentarier in Spitzenfunktionen mehr als solche ohne. Diese Unterschiede sind real. Dann gibt es Unterschiede zwischen sitzungsfreien und Sitzungswochen. Das sind also Unterschiede, die sind nicht schöngefärbt. Ich glaube aber auch, dass da jetzt keine gigantischen Übertreibungen vorliegen. Es ist ja auch eine anonyme Befragung, bei der kein Abgeordneter befürchten muss, als faul dazustehen.
Das Interview führte Claudia Heine.