Berlin ist eine arme Stadt. Nicht, weil der Karneval dort nicht so stilecht ist wie im Rheinland, sondern weil ein Schuldenberg von über 50 Milliarden Euro den Landeshaushalt belastet. Berlin ist eine reiche Stadt, weil sie trotzdem eine bemerkenswerte kulturelle Vielfalt besitzt. Und: "Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands." So formulierte es der Eini- gungsvertrag von 1990 und setzte damit eine bis heute geführte Debatte über die Rolle und den Zustand der neuen Hauptstadt in Gang. Daran änderten auch der Berlin-Beschluss des Bundestages von 1991, der die Verlagerung von Parlament und Regierung an die Spree bestimmte, und seine juristische Fixierung im Berlin/Bonn-Gesetz von 1994 nichts. In Bonn hatte man Angst, mit der politischen Bedeutung auch die Wirtschaftskraft der Region zu verlieren, und in Berlin träumte man von künftigem Glanz, in dem sich alle Probleme von selbst auflösen würden.
Weil das nicht passierte, forderte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit (SPD), kürzlich eine Hauptstadt-Klausel im Grundgesetz. Sie solle festlegen, dass Berlin Hauptstadt ist und vor allem, dass die Gewährleistung notwendiger hauptstadtbezogener Infrastruktur und die Repräsentation des Gesamtstaates, insbesondere auf kulturellem Gebiet, Aufgabe des Bundes wären. Schützenhilfe erhielt dieser Vorschlag ausgerechnet aus Bayern: "Ich weiß, Berlin braucht Hilfe", sagte dessen Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU). Die Probleme der Stadt hängen nicht nur, aber auch mit deren Aufgaben als Bundeshauptstadt zusammen. Andere Länderchefs reagierten dagegen ablehnend: "Wir werden Berlin nicht zum Paris Deutschlands machen", sagte Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU). Es war nicht zuletzt diese Angst vor einer Zunahme zentralistischer Strukturen, die die Berlin-Bonn-Debatte im vergangenen Jahrzehnt bestimmte.
Das Berlin/Bonn-Gesetz, das der Bundestag am 10. März 1994 verabschiedete, regelte deshalb nicht nur die Einzelheiten des Umzugs von Parlament und Regierung nach Berlin. Ein wesentlicher Teil konzentrierte sich auf die Maßnahmen, mit denen die Stadt und Region Bonn gefördert werden sollte. Als Ausgleich für den anstehenden Verlust sollte eine Neuansiedlung von Bundeseinrichtungen in Bonn stattfinden. Unter anderem sah das Gesetz vor, den Bundesrechnungshof, das Bundesversicherungsamt und das Bundeskartellamt an den Rhein zu verlagern. Der Bund sagte zudem zu, sich zu bemühen, weitere internationale Organisationen dort zu konzentrieren. Heute sind die Vereinten Nationen mit vielen neuen Einrichtungen in Bonn vertreten.
Eine "gerechte Aufgabenverteilung" zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der "Bundesstadt" Bonn und deren Finanzierung standen im Zentrum der Bundestagsdebatte vom 10. März.
Seine Kritiker bemängelten den Umzug nach wie vor als zu teuer, was den Grünen-Abgeordneten und Berlin-Befürworter Wolfgang Ullmann veranlasste zu fragen, "wie das wohl im Ausland ankommen mag, wenn man hört, die Deutschen debattieren darüber, ob sie reich genug sind, um sich die Vollendung der Deutschen Einheit leisten zu können". Sein Argument für Berlin, dass dort nun eine "Regierung sitzt, die nicht mehr abgeschirmt in einer Weltferne, wie wir es hier sind" arbeiten kann, reizte allerdings auch andere aus dem Berlin-Lager dazu, die alte Hauptstadt zu verteidigen: "Hier in Bonn ist weder provinzielle noch weltabgewandte Politik gemacht worden. Hier ist eine Politik gemacht worden, die Wiedervereinigung und europäische Integration ermöglicht hat", erwiderte Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU). Sie betonte außerdem, dass es neben der Kostenfrage doch eigentlich, um die "Zukunftsplanung und -gestaltung für die Politik" gehe. Berlin sei die "Zukunft für unsere Demokratie", bekräftigte auch die Parlamentarische Geschäftsführerin der Union, Brigitte Baumeister. Diesen Optimismus teilte der fraktionslose Abgeordnete Ulrich Briefs nicht, der darauf hinwies, dass dort die "scheußlichsten Verbrechen der Menschheit geplant und organisiert wurden". Immerhin werde die Regierung aber damit konfrontiert, dass Berlin "eine Stadt der nationalen Niederlagen, eine Stadt der nationalen Verlierer sei". Harte Worte über eine Stadt, der es zehn Jahre danach tatsächlich schwer fällt, sich als Gewinnerin ihres "Hauptstadt-Bonus" zu präsentieren, wenn auch aus anderen Gründen.