In einer Mediendemokratie ticken die Uhren anders. Bevor in der Früh die ersten Sitzungen beginnen, haben etliche Politiker bereits ihre ersten Radio- oder Fernsehinterviews gegeben. Sie sitzen als Gast im "Morgenmagazin" der ARD/ZDF oder besuchen die Nachrichtensender. Und abends, wenn der normale Bürger Feierabend macht, sitzen sie wieder da: bei Sandra Maischberger im kleinen n-tv-Studio mit der Küchentischatmosphäre, bei Maybrit Illner in "Berlin Mitte" oder sie geben bei den "Tagesthemen" und im "heute-journal" ihre Statements ab.
Noch nie hatten Politiker im Fernsehen so viele Plattformen, um sich präsentieren zu können. Und sie nutzen sie gerne - zumindest, wenn sie nicht gerade in der Kritik stehen. Dazu gehören im Jahr 2004 auch ganz selbstverständlich die Boulevard-Talkrunden von Schmusetalker Reinhold Beckmann und Johannes B. Kerner. Hier können sich die Politiker von der privaten Seite zeigen - die Gastgeber geben bereitwillig die passenden Stichworte.
Bei Interviewanfragen von Politmagazinen ist im Terminkalender plötzlich kein Platz mehr. Investigative Formate wie "Monitor" oder "Frontal 21" sind vielen Politikern zu anstrengend. Theo Koll, ZDF-Moderator von "Frontal 21", findet das menschlich sogar verständlich: "Die Politiker haben viel Aufwand für wenig Medienpräsenz. Und das noch mit der hohen Gefahr, dass sie dort kritisch abgefragt werden." Schließlich bleibe meist von einem 30-Minuten-Interview nur ein O-Ton übrig, sagte er Ende Januar auf dem NDR-Talk-Symposium. Dort wurde auch über die Wirkung von politischen Gesprächsrunden debattiert. "Durch viele Talkrunden kennen wir den Haaransatz von Friedrich Merz besser als den von unserem Patenonkel", so Koll.
Friedrich Merz gehörte im Jahr 2003 noch nicht mal zu den Talk-Meistern. Guido Westerwelle und Hans Eichel waren allein nur bei Sabine Christiansen sechs Mal zu Gast. Das lag beim Finanzminister natürlich an der Haushaltsmisere, beim FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle sicher auch daran, dass er ein guter Talkgast ist. Er äußert sich einfach zu allem. Zu Sabine Christiansen gehen sie ohnehin alle gern: Die ehemalige "Tagesthemen"-Moderatorin hat einfach den besten Sendeplatz, nach dem Sonntagskrimi lassen stets fünf Millionen Zuschauer ihren Fernseher eingeschaltet.
Und so versammeln sie sich Woche für Woche in der blauen Studio-Kugel. Die Polit-Talkrunde wird immer wieder als "Ersatzparlament" oder "Mini-Bundestag" bezeichnet. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat etwas gegen Talkshows, weil diese seiner Meinung nach zur Entwertung des Deutschen Bundestages beitragen. Zu viele Stellungnahmen, aktuelle Debatten, schnelle Reaktionen von Politikern würden vor allem im Fernsehen stattfinden und eben nicht im Parlament, Plenum oder in den Ausschüssen. "Das ist bedauernswert, aber ich kann nicht sagen, wie man das wieder ändern soll", sagte er leicht resigniert bei der mittlerweile abgesetzten Gesprächsrunde von Joachim Gauck.
Medienwissenschaftler Norbert Bolz glaubt ebenfalls, dass es kein Zurück mehr gibt. "In der Mediendemokratie ist die parlamentarische Demokratie ein Auslaufmodell." Aufmerksamkeit ist inzwischen die knappste Ressource des medial überfluteten Menschen geworden, so Bolz. Da genießen die Politiker ihren sonntäglichen Auftritt bei Sabine Christiansen. Dort können sie ungestört ihre Botschaften loswerden. Um Fakten gehe es da ohnehin kaum. "Spielverderber ist derjenige, der Sachkenntnis vermitteln will. Die meisten Gäste sind Profis genug, dies erst gar nicht zu versuchen", sagt der Medienwissenschaftler von der TU Berlin.
Politologe Jürgen Falter saß selbst schon 18 Mal als Gast bei Sabine Christiansen. "Polittalkshows dienen aus Sicht der Politiker weniger der Analyse als vielmehr ihrer Selbstdarstellung. In den meisten Talkshows werden vor allem Eindrücke von Politikern vermittelt", sagt Falter. "Die Politiker sind meistens echte Medienprofis. Sie sind bei Sabine Christiansen trotz der großen Zuschauerzahlen nicht unbedingt aufgeregter als in anderen Talkrunden, aber sie fallen sich etwas häufiger ins Wort, lassen sich seltener auf einen Dialog ein." Es folgt das übliche Gezänke. "Otto Schily etwa ist ein Meister darin, andere Talkgäste dadurch zu verunsichern, dass er ihnen ständig ins Wort fällt. Hans Eichel versucht die Diskussion durch Dauerreden an sich zu reißen, wirkt dabei aber häufig etwas beleidigt", hat Falter von der Universität Mainz beobachtet.
Was Medienwissenschaftler Bolz erstaunt ist, dass es beim Publikum keine Reaktion auf diese Unhöflichkeiten gibt. Die Moderatorin selbst kann das inszenierte Gezänke nur selten verhindern. Gelegentlich bricht sie einen Redner sogar genau dann ab, wenn es mal wirklich spannend wird. Die Medienbranche kritisiert intern Christiansens Moderationsstil immer wieder, doch öffentlich äußert sich dazu kaum ein Kollege. Sie ist eben die Quotenqueen des Polittalks. "Sabine Christiansen ist zu einer Institution geworden, das erspart viel Selbstzweifel", sagt auch Norbert Bolz. "Und erspart Kompetenz."
Politologe Jürgen Falter hat festgestellt, dass sich die gleichen Politiker in einer kleineren Talkrunde, etwa bei Phoenix, oft sehr viel umgänglicher verhalten. "Hier kommt häufiger eine wirkliche Diskussion zustande." Phoenix - der gemeinsame Ereignis- und Dokumentationskanal von ARD und ZDF - ging im April 1997 auf Sendung. "Phoenix dient der politischen Meinungs- und Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger, es sollen Hintergründe erhellt und Zusammenhänge dargestellt werden", so lautet der Programmgrundsatz des Spartenkanals. Das Programm besteht aus ARD- und ZDF-Dokumentationen, über 5.400 wurden im vergangenen Jahr gesendet, und vor allem aus Vor-Ort-Berichterstattungen: Bundestagsdebatten, Pressekonferenzen und Parteitagen. Diese werden meist in voller Länge übertragen - und sei es bis 22 Uhr. Der Sender erzielte damit im Jahr 2003 einen durchschnittlichen Marktanteil von 0,6 Prozent. Ähnlich ist die Quote bei den Nachrichtensendern.
Für Phoenix als Korrespondent vor Ort ist Gerd-Joachim von Fallois. Bis vor zwei Jahren arbeitete der 42-Jährige bei n-tv als Parlamentskorrespondent. Noch heute trifft er täglich seine alten Kollegen. Parlamentskorrespondenten halten zusammen. Rund 900 Journalisten sind bei der Bundespressekonferenz e.V. registriert. 130 davon, sie nennen sich "Kampfschweine", sind tatsächlich immer vor Ort, wenn etwas im Reichstag passiert. "Der Umgang der Kollegen untereinander ist völlig offen", sagt von Fallois. "Wir sind wie eine große Familie." Als der Bundestag nach Berlin zog, gab es eine Phase der Unruhe. Viele neue Medienleute kamen dazu, kannten die Spielregeln nicht. Die vielen Kameras, die Mikrofone der Hörfunkjournalisten, die TV- Korrespondenten. Wer steht wo? "Mittlerweile hat man sich darauf geeinigt, immer erst einen Mikrofonturm zu bauen, damit alle das wichtigste Statement haben." Die Exklusivinterviews besorgt man sich danach.
Der mediale Alltag im Bundestag ist eher ruhiger geworden, zum Beispiel durch die Senderfusionen. Seit es die ProSiebenSat1 Media AG gibt, taucht nur noch ein N24-Team auf. Auch Printjournalisten zwingen der erhöhte Aktualitätsdruck und das Arbeiten an mehreren Themen gleichzeitig dazu, sich viele Debatten via TV bei Phoenix anzuschauen. Mittlerweile gibt es zudem das Parlamentsfernsehen, das viele Redaktionen empfangen können. Voll wird es - außer dienstags zu den Fraktionssitzungen - nur bei wichtigen Entscheidungen und Abstimmungen, etwa Hartz III und IV, dann herrscht in der Lobby vor den Türen des Plenarsaals dichtes Gedränge.
Wenn schon nicht im Bundestag, so taucht der eine oder andere Printjournalist gerne mal selbst im Fernsehen auf. Es gibt sogar einige, die sich damit brüsten, an einem Tag drei Fernsehinterviews gegeben zu haben. Das seien jedoch die schwarzen Schafe, nimmt von Fallois seine Kollegen in Schutz. Generell seien die Printjournalisten ja eingeladen, um die politischen Ereignisse für die Zuschauer verständlicher zu machen - sei es bei Phoenix oder bei anderen Sendern. Plattformen dafür gibt es genug.
Für Politiker ist Phoenix - trotz der niedrigen Zuschauerzahlen - eine interessante Plattform. Hier können sie sehen, wie sie via TV rüberkommen. Medienwissenschaftler Bolz vergleicht es mit dem, was Frauen, dem Hörensagen nach machen: "Frauen stellen sich vor einen Spiegel, um sich selbst kennen zu lernen. So ist das bei den Politikern, wenn sie sich bei Phoenix sehen." Heute werde im Bundestag anders diskutiert, als dies noch in den 60er-Jahren üblich war, sagt Politologe Jürgen Falter. "Vor allem wurde damals ernsthafter gestritten. Diese Politiker hatten den Zweiten Weltkrieg erlebt und waren nun daran beteiligt, eine Demokratie aufzubauen. Sie meinten es bitterernst. Heute gibt es im Bundestag kaum noch so gute und überzeugende Redner. Dafür sind die Politiker viel mediengewandter."
Politik-Neulinge besuchen meist eine Rhetorikschule, bevor sie sich den Fragen der Journalisten stellen, hat auch Gerd-Joachim von Fallois festgestellt. Sie kennen eben die Spielregeln der Mediendemokratie. "Früher haben die Journalisten Politiker beobachtet, jetzt beobachten die Politiker die Journalisten", sagt auch Friedrich Nowottny. Einmal Abweichler spielen, schon taucht man in den "Tagesthemen" auf. CDU-Neuling Philipp Mißfelder, 24, schaffte dies mit nur wenigen Sätzen. "Ohne TV-Auftritte", da ist sich Medienwissenschaftler Bolz sicher, "kann heute kein Politiker mehr Karriere machen."