Der Deutsche Bundestag befasste sich auf seiner Sitzung vom 1. April mit dem interfraktionellen Gruppenantrag "Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an". Im Anschluss an die Debatte wurde der Antrag ( 15/1544) an die zuständigen Ausschüsse des Bundestages überwiesen.
Den Antragstellern geht es um ein wirklich allgemeines Wahlrecht für alle Deutschen, also unter Einbeziehung der Kinder, die bei der Ausübung dieses Rechts durch ihre gesetzlichen Vertreter repräsentiert werden sollten. Sie versprechen sich dadurch die Erfüllung der Vorgabe, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, eine stärkere Beachtung der Kinderbelange in der Gesetzgebung, eine Aufwertung der Familien. Die häufigsten Einwände lauten, dass dadurch der ungeschriebene Verfassungsgrundsatz der Höchstpersönlichkeit und die Wahlrechtsgleichheit verletzt würden.
Was die Höchstpersönlichkeit anlangt, so ist bekannt, dass alte Demokratien wie Großbritannien und Frankreich die Stimmrechtsübertragung - nicht bloß eine Mithilfe, wie in Deutschland bei der Briefwahl - offenbar unbedenklich praktizieren. Entsprechendes gilt auch in Belgien, den Niederlanden und wohl den davon beeinflussten Staaten.
Wie aber steht es im Ausland mit der Forderung nach einem wirklich allgemeinen Wahlrecht? Gibt es dort ähnliche Bestrebungen wie in der Bundesrepublik?
Der englische Autor Stein Ringen plädiert in seinem Buch "Citizens, Families and Reform" von 1997 unter gewissenhafter Abwägung das Für und Wider für die Ausdehnung des Wahlrechts auf die Kinder. Eine der Unzulänglichkeiten der realen Demokratien sei es, dass nicht alle Bürger in den öffentlichen Angelegenheiten in gleicher Weise das Sagen hätten, trotz des Ideals: ein Mensch, eine Stimme. Manche haben keine Stimme. Er schildert, wie das Wahlrecht in den letzten Jahrzehnten ausgedehnt worden ist, unter anderem durch Absenkung des Wahlalters, jetzt in der Regel mit 18 Jahren beginnend. Das habe viele zu Wählern gemacht, die bisher als zu unreif erachtet wurden, um mit der Verantwortung des Wählens betraut zu werden. Doch Kindern wird das Recht nach wie vor vorenthalten. Die politischen Parteien und Abgeordneten haben die Interessen ihrer Wähler vor Augen. Die Interessen der Kinder erzwingen nicht auf die gleiche Weise die Aufmerksamkeit der Parteien und Kandidaten. Offenbar gebe es auch andere Wege, um Aufmerksamkeit zu erlangen, so über einflussreiche Organisationen. Aber auch insofern seien die Kinder nicht konkurrenzfähig. Und schließlich sei es die Wählerstimme, die im demokratischen Prozess den Ausschlag gebe.
Nach Auffassung des Autors sollten die Kinder wahlberechtigt werden. Ihre Eltern sollten dieses Recht ausüben. Er denkt dabei vor allem an die Mütter, da sie meist uneigennütziger seien.
De Briey Laurent beklagt in einer 20 Seiten starken Untersuchung, dass bei den letzten australischen Bundeswahlen fast fünf Millionen Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von etwas weniger als 20 Millionen nicht wählen durften. Diese Situation, die das allgemeine Wahlrecht in Frage stelle, sei nicht typisch für Australien. In jedem demokratischen Land hätten große Teile der Bürgerschaft, die Kinder, kein Recht zu wählen. Er veranschaulicht an einem Beispiel, wie die Vorenthaltung dieses Rechts eine rechtliche und faktische Diskriminierung bewirke. In den westlichen Demokratien gehöre es zur tradierten politischen Kultur, die Bürgerschaft nach dem Wahlrecht zu bestimmen. Entscheidend für das Wahlrecht müsse aber die Betroffenheit sein, wobei er seine Untersuchung auf die Verleihung des Wahlrechts an die Kinder beschränkt. Die Fragestellung dürfe nicht lauten: Warum diesen Leuten jene Rechte geben, sie müsse vielmehr lauten: Warum diesen Bürgern jene Rechte verweigern, die alle anderen Bürger genießen. Der Autor fordert eine Umkehrung der Beweislast und zeigt dann, dass es aus seiner Sicht keine zwingenden Argumente für einen solchen Ausschluss gibt, der nur historisch zu erklären sei. Als das demokratische Wahlrecht eingeführt worden sei, sei es gleichsam ein Privileg gewesen, das immer stärker durchbrochen worden sei und heute vor dem letzten Durchbruch stehe.
Auch in Tschechien gibt es in und zwischen den Parteien eine heiße Debatte, ob Kindern das Wahlrecht eingeräumt werden soll. In einem Medienbericht wird der Stellvertretende Vorsitzende der Christdemokraten, Thomas Kvapil, zitiert: "Die tschechische Bevölkerung wird älter. Wir leben länger. Die Lebenserwartung steigt. Die Kinderzahl in den Familien nimmt ab. Das bedeutet, dass ältere Wähler den Ton angeben und die Politiker sich verstärkt danach richten." Kvapil und seine Verbündeten sind von den positiven Auswirkungen einer solchen Reform überzeugt. Die Familien würden aufgewertet.
Ähnlich wie in Deutschland ist die Situation in Österreich. Im Februar 2004 erschien dort eine Broschüre mit dem Titel: "Wie allgemein ist das Wahlrecht? Ein verfassungspolitischer Beitrag zur Idee eines Kinderwahlrechtes" von Karl Lengheimer, Landtagsdirektor von Niederösterreich. Er stellt die Plattform Kinderwahlrecht vor, deren Kernanliegen in die Worte zusammengefasst ist: "Ein Stellvertreterwahlrecht für Kinder ist ein Gebot der Generationengerechtigkeit. Im derzeitigen System gibt es unbescholtene Staatsbürger mit Interessen, die von politischen Entscheidungen voll betroffen sind, aber kein Wahlrecht haben. Das ist ungerecht. Das Kinderwahlrecht würde nicht Privilegien für Familien bringen, sondern eine bestehende Diskriminierung beseitigen. Diskriminierung ist abzulehnen - auch solche aufgrund des Lebensalters."
Am 20. November 2003 brachte die Plattform Kinderwahlrecht ihr Positionspapier in den Österreich Konvent ein. In dessen Plenarsitzung am 21. November äußerten sich Nationalratspräsident Andreas Khol positiv zum Antrag der Petenten. Am 27. November wurde das Papier der Plattform in den Kreis der externen Positionspapiere aufgenommen. Im Dezember erfolgte die Zuweisung an die zuständigen Ausschüsse.
Wird den nahezu inhaltsgleichen Initiativen in den engverwandten Nachbarstaaten Deutschland und Österreich das gleiche Schicksal beschieden sein?
Im Entwurf einer Verfassung für Europa heißt es einleitend, Thukydides zitierend: "Die Verfassung, die wir haben... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist." Grob geschätzt war damals nur jeder Zehnte mitwirkungsbefugt, bildete die "Mehrheit". So lange nicht die Gesamtheit der Staatsangehörigen die Staatsgewalt legitimiert, werden die Stimmen nicht verstummen, die auf einen konsequenten Abschluss der Wahlrechtsentwicklung hinwirken. Konrad Löw