Irgendwie schienen sie ihn alle anzuhaben, den "Mantel der Geschichte", damals im Juni 1989: Michail Gorbatschow, Helmut Kohl und Erhard Eppler. Historisch war nicht nur der viertägige Staatsbesuch des sowjetischen Staats- und Parteichefs Michail Gorbatschow in der Bundesrepublik. Kurz danach, am 17. Juni 1989, hielt der SPD-Politiker Erhard Eppler im Bundestag eine Ansprache zu jenem Feiertag, mit dem das westliche Deutschland alljährlich an die Unruhen in der DDR im Jahr 1953 erinnerte. Es war keine Sonntagsrede der üblichen Art.
In versöhnlichem Grundton formulierte der "linke Vordenker" Eppler Perspektiven einer künftigen Deutschlandpolitik, die einer kritischen Analyse nicht auswichen. Den 17. Juni 1953 berührte er dabei nur am Rande. Schwerer wog seine Forderung nach einer vorwärtsgewandten und von überholten Begriffen geläuterten Politik. Eppler plädierte zum Beispiel dafür, die Frage des künftigen Verhältnisses beider deutscher Staaten vom Begriff der "Wiedervereinigung" zu trennen. Es gelte, deutlich zu machen, "dass wir nicht Vergangenes restaurieren, sondern Neues schaffen wollen, und zwar gemeinsam mit unseren Nachbarn". Er wandte sich aber auch gegen den Begriff vom "Verrat" in diesem Zusammenhang: "Weder hat Adenauer die deutsche Einheit noch Brandt die deutschen Ostgebiete verraten", stellt er fest und zog so einen Schlussstrich unter die bisher prägenden Streitigkeiten in der Deutschlandpolitik. Der Applaus aller Fraktionen des Bundestages war ihm sicher.
Im Unterschied zu vergangenen Jahrzehnten fand die Rede vom geeinten Land vor einem Hintergrund statt, der eine solche Neubewertung nahelegte. Zwar schien die Einheit noch nicht in greifbarer Nähe. Die Entwicklungen in der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten verlangten jedoch ein Nachdenken, das über bloßes Wunschdenken hinausging. Die Reformpolitik Michail Gorbatschows nährte auch im Westen neue Hoffnungen auf einen nicht mehr ganz so "Eisernen Vorhang" zwischen Ost und West. Noch nicht wissend, wie schnell er tatsächlich fallen sollte, klangen Epplers Worte trotzdem wie eine Vorahnung: "Wir haben bisher nicht präzise sagen können, was in Deutschland geschehen soll, wenn der Eiserne Vorhang rascher als erwartet durchrostet."
Einige Tage zuvor, am 13. Juni, traten Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und der sowjetische Staatschef Gorbatschow mit einer "Gemeinsamen Erklärung" an die Öffentlichkeit. Ganz vom Wunsch gegenseitiger Annäherung getragen, stellte sie das Verhältnis beider Länder auf eine neue Stufe. Zahlreiche Kooperationen auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet sollten nun Wirklichkeit werden. Über Systemgrenzen hinweg formulierte sie als politisches Ziel, "an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anzuknüpfen und so zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen". Wie aber sollte eine Trennung aufgehoben werden, die nicht nur einen Kontinent, sondern ein Land und eine Stadt teilte?
Gorbatschow machte auf einer Pressekonferenz am 15. Juni in Bonn deutlich, dass eine Lösung der deutsch-deutschen Frage im Sinne einer Vereinigung nicht auf der Tagesordnung stehe: "Die Situation in Europa, die wir heute haben, ist eine Realität." Die Mauer könne nur verschwinden, "wenn jene Voraussetzungen entfallen, die sie ins Leben gerufen haben". Gorbatschow formulierte in diesem Zusammenhang lediglich die vage Hoffnung, "dass die Zeit selbst über das Weitere bestimmen wird".
Wie schnell "das Weitere" Realität werden sollte, konnte im Juni 1989 niemand wissen. Auch Erhard Eppler forderte vor dem Parlament, die Situation so anzuerkennen, wie sie ist und die Existenzberechtigung der DDR nicht in Frage zu stellen. Dennoch wies er all jene in die Schranken, die die Einheit des Landes schon abgeschrieben hätten. Für Eppler, der als Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission in den 80er-Jahren zahlreiche Gespräche mit SED-Politikern geführt hatte, war das Thema noch nicht erledigt. Aber, so Eppler, "die freie Entfaltung der Menschen in der DDR begrüßen wir auch dann, wenn sie deren Loyalität zum anderen deutschen Staat stärken und damit diesen Staat stabilisieren".
Es war eine Anerkennung, die zugleich an starke Zweifel über die Reformfähigkeit der SED-Führung geknüpft war, ohne die das Land jedoch nach Ansicht Epplers keine Zukunft hatte. Die DDR könne nur überleben, "wenn sie eine Funktion erfüllt, die ihren eigenen Bürgern einleuchtet", sagte er. Dazu sei ein Dialog zwischen Bürgern und Politikern nötig. Als dieser im November 1989 begann, war es dafür schon zu spät.