Die kleine Schrift von Niels von Redecker weckt bei den einen Hoffnung, ihr Vermögen in den ehemaligen deutschen Ostgebieten zurückzuerhalten, bei den anderen, konkret in Polen, ruft sie große Irritationen hervor. Der Autor, der nach seinem Studium 1997 Rechtsberater im estnischen Justizministerium und später Anwaltspraktikant in Polen war, arbeitet heute als Referent im Institut für Ostrecht in München.
Das kleine Büchlein hat neben der Einführung insgesamt vier Kapitel, und zwar über die "Aufhebung und Weitergeltung der Vertreibungsdekrete" 1944 bis 1947, über die "polnischen Vertreibungsdekrete heute", die "offenen Vermögensfragen zwischen Deutschland und Polen" sowie "die Erfolgsaussichten jüdischer Restitutionsklagen nach polnischem Landesrecht - zur Rückgabe von Grundeigentum in den Ostgebieten des Deutschen Reiches". Enthalten ist ebenfalls ein Anhang mit neun "Texten der noch gültigen Vertreibungsdekrete".
Wäre das Thema nicht so brisant, vor allem auch für die deutsch-polnischen Beziehungen, könnte man einfach sagen, die Broschüre bringt eigentlich nichts Neues. Auch ist sie keine Gebrauchsanweisung zum Handeln, wie man an sein unwiederbringlich verlorengegangenes Vermögen kommen könnte. Wenn über Erfolgsaussichten jüdischer Restitutionsklagen geschrieben wird, dann sollte man eindeutig sagen, dass es sich dann nur um polnische Staatsbürger handelt. Die polnischen Dekrete der Kriegs- und Nachkriegszeit sind auch in Deutschland seit langem bekannt.
Von Redecker führt neun noch "gültige Vertreibungsdekrete" an, unter anderem das "Dekret vom 31. August 1944 über die Strafzumessung für faschistisch-hitleristische Verbrecher, die der Tötung und der Misshandlung der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen schuldig sind, sowie für Verräter der polnischen Volkes". Jeder Historiker und auch politisch Interessierte muss hier doch fragen, was will der Autor mit der Anführung der "gültigen Vertreibungsdekrete" eigentlich beweisen? Der bekannte polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej schrieb vor einem Jahr in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (28. Juni 2003), dass alle polnischen Dekrete schon längst ihre Rechtskraft verloren haben.
Die aufgestellten Thesen über "offene Vermögensfragen" sind weder rechtlich noch politisch überzeugend und können eher als ein Wunschtraum derjenigen angesehen werden, an die das Büchlein adressiert zu sein scheint. Mit den Argumenten, die zu Restitutionsklagen ermuntern, wird es keine Aussicht auf Erfolg haben. Nach dem gegenwärtigen Stand sind alle vermögensrechtlichen Ansprüche der Umgesiedelten, Flüchtlinge und Vertriebenen, auch der "Treuhand", ohne formal-rechtliche Grundlagen.
Es ist ein schweres Unterfangen, das sich der Autor mit dieser Publikation vorgenommen hat, wenn der historische und völkerrechtliche Hintergrund nicht beleuchtet wird. Nicht nur stört die Einseitigkeit der Darstellung, es stören auch die vielen unpräzisen Formulierungen. Erstens: es gibt keine polnischen Dekrete über Vertreibung. Die Vertreibung wurde im Potsdamer Abkommen als sogenannter Transfer, als Umsiedlung, beschlossen. Dass es auch polnischerseits zu Vertreibungen der Deutschen gekommen ist, gehört zur traurigen polnisch-deutschen Nachkriegsgeschichte nach Ende des barbarischen Krieges.
Zweitens sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die ersten Befehle an die Deutschen, Haus und Hof zu verlassen und zu flüchten, von deutschen Behörden erteilt worden waren. Drittens stützen sich die polnischen Dekrete über die Beschlagnahme deutschen Vermögens auf die Potsdamer Beschlüsse. Als Außenminister Klaus Kinkel 1996 erklärte, dass die deutschen Regierungen die Potsdamer Beschlüsse nicht anerkannt haben, erinnerten die Großmächte daran, dass sie weiterhin ihre Gültigkeit besäßen. Wurde doch in den "Zwei-Plus-Vier-Gesprächen", die die Friedenskonferenz, auf der viele unterschiedliche Ansprüche zu regeln gewesen wären, ersetzten und die deutsche Einheit ebneten, nicht über Vermögensregelungen gesprochen. So wundert es nicht, dass sich der polnische Außenminister Skubiszewski nach dieser Aussage zu der Erklärung gezwungen sah, dass nicht nur Polen deutsches Eigentum beschlagnahmte, sondern auch die Großmächte, als sie in ihren Zonen strategische Werke demontierten und deutsches Eigentum im Ausland konfisziert hatten. Es wäre sicher besser gewesen, wenn in dem großen polnisch-deutschen Vertragswerk vom 17. Juni 1991 die Vermögensfrage nicht ausgespart geblieben wäre; dann gäbe es heute keine Spekulationen.
Doch es gibt auch einen optimistischen Aspekt in der Publikation, wenn von Redecker schreibt, dass man das "Recht auf Heimat" durch den Grundstückserwerb in Polen "bereits heute recht problemlos genießen" könne. Doch hier müsste man fragen, wird damit auch das moralische Recht zuerkannt oder ist es nur ein Recht in neuen europäischen Strukturen?
Nach Jahren, in denen vor allem die neuen Chancen einer gutnachbarschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen in der Öffentlichkeit beider Länder nicht nur bejubelt, sondern in vielen Bereichen auch umgesetzt worden sind, muss man besorgt die Frage stellen, ob uns aufgrund der vielen Querelen und Streitigkeiten die Vergangenheit bereits wieder eingeholt hat?
Einer der Berater des polnischen Präsidenten sagte in einem Interview für "Die Welt" offen, was er denkt, dass es "eine Eskalation der Antipathie" gebe, "ja sogar der Feindschaft". So hat es heute den Anschein, als ob erneut dunkle Schatten über die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen geworfen werden. Nicht nur die außenpolitischen Querelen, auch die Debatte über die Pläne des Bundes der Vertriebenen, ein Zentrum gegen Vertreibung in Berlin zu errichten, sowie aber auch die "offenen Vermögensfragen", die es anscheinend noch immer gibt, wie uns der Autor suggeriert, tragen dazu bei.
Polnische Medien berichteten, dass bisher weit über 30.000 deutsche Klagen auf Rückerstattung des Eigentums von ehemaligen Flüchtlingen und Vertriebenen an polnische Behörden gerichtet wurden. Doch die Eingaben ruhen, denn sie werden nicht bearbeitet, weil sich keine polnische Behörde dafür als zuständig ansieht. In der "Welt am Sonntag" antwortete der ehemalige Außenminister Bartoszewski auf die Frage, wie sich Polen auf eventuelle Klagen von deutschen Vertriebenen auf die Rückerstattung des Eigentums vorbereitet: "Überhaupt nicht. Wenn man solche Ansprüche stellt, muss man erst einmal die Grenze festlegen. Warum nicht bei 1772 anfangen, beim Angriff Preußens auf Polen?"
Doch wie sieht das Fazit "deutscher Ansprüche und Klagen" aus? In Polen hat das zu heftigen Reaktionen geführt, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch zu Irritationen bei den einzelnen Menschen. Der Warschauer Bürgermeister war der erste, der öffentlich erklärte, dass Polen auch eine Rechnung im Schrank bereit halte. Die Verluste, die allein die polnische Hauptstadt während der deutschen Okkupation erlitten hätte, würden sich auf mindestens 31,5 Milliarden Dollars belaufen. Die Tageszeitung "Rzeczpospolita" wandte sich vor einigen Monaten sogar mit der Aufforderung an die Polen, für alle Fälle eine Liste mit ihren Wiedergutmachungsansprüchen vorzubereiten.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es allerdings, dass politisch die Wellen sanfter schlagen. So heißt es in der gemeinsamen deutsch-polnischen Deklaration des deutschen Bundespräsidenten und des polnischen Präsidenten, die sie während ihres Treffens im Oktober 2003 in Danzig abgegeben haben, dass materielle Forderungen und das gegenseitige Anklagen sowie die gegenseitige Auflistung erlittener Verluste und begangener Verbrechen nun endgültig aufhören müssten.
Mieczyslaw Tomala
Niels von Redecker
Die polnischen Vertreibungsdekrete und die offenen Vermögensfragen zwischen Deutschland und Polen.
Studien des Instituts für Ostrecht München, Band 44.
Europäischer Verlag der Wissenschaften Peter Lang,
Frankfurt/M. 2003; 129 S., 24,80 Euro