Die wirtschaftliche Lage und der Arbeitsmarkt in Deutschland haben einen Tiefpunkt, die Debatte darüber einen Höhepunkt erreicht. Seitdem Meinhard Miegel der deutschen politischen Kaste seinen Bestseller über die deformierte Gesellschaft um die Ohren gehauen hat, mehren sich die Publikationen zum Patienten Deutschland, der in Sachen Bildung, Arbeitsmarkt und Wachstum mehr als schwächelt und der in Punkto Finanzen seit mehr als einer Dekade finanz- und sozialpolitisch am Tropf der Banken und der sozialabgabenpflichtigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hängt.
Der mittlerweile nüchtern-eiserne Kanzler hat mit der Agenda 2010 reagiert. Das war ein gewaltiger Schritt für die in ihrer Identität arg gebeutelte SPD und eine anstrengende Leistung für ihn selbst, leider aber nur ein kleiner Schritt für das Land. Dessen Zukunft hängt von etwas anderem ab: vom Paradigmenwechsel in einer bequem gewordenen sozialen Marktwirtschaft. Da rollen unbotmäßig die Herausforderungen einer transnationalen Technologiegesellschaft auf uns zu, bei dem der rheinische Kapitalismus und vieles an menschlichem Zusammenhalt über Bordzu gehen drohen.
Viele Menschen wissen das im Grunde, dass hier ein Countdown läuft, nicht nur für die rot-grüne Koalition, sondern in Wahrheit für die deutsche Gesell-schaft insgesamt, die erkennt oder zumindest instinktiv spürt, dass sie beim Umdenken und Umsteuern in Gänze mittun muss. Und hier setzt die neue Publikation von Christoph Keese, dem Chefredakteur der "Financial Times Deutschland", mit einem engagierten Ansatz an.
Natürlich stellt sich mittlerweile in vielen Ländern der westlichen Welt - gegen die von Francis Fukuyama formulierte These vom Ende der Geschichte - die sozio-ökonomische Systemfrage. Wohlgemerkt: die sozio-ökonomische Systemfrage, also die Frage nach der Verbindung von wirtschaftlich effizienten Wertschöpfungsprozessen und sozialer Kohäsion. Die Unkontrollierbarkeit der internationalen Finanzströme, Börsencrashs, Konjunkturflaute, japanisch inspirierte Deflationsbefürchtungen, eine demographische Zeitbombe, Schwarzarbeit, die generelle Frage nach arm und reich, ein kollaborierendes Sozial- und Rentenversicherungssystem - alles dies und mehr drückt gewaltig die Stimmung.
Sind wir eigentlich noch korrekt aufgestellt? Diese Frage hat uns die sintflutartig zugenommene Publikationswelle zur Globalisierung längst in unser Alltagsbewusstsein gespült. Die angemessene Antwort auf die Strukturdefizite in Deutschland und auf die Globalisierung, - das ist letztendlich das Anliegen von Keese. Um nichts anderes geht es ihm als um die Zukunft des Kapitalismus in diesem Lande.
Da ist ein neoliberaler Überzeugungstäter am Werk, so der erste, auch durch den Titel genährte und vorurteilsvolle Eindruck, Sieht man genauer hin, so merkt man, dass der Autor, stringent, vor allem wohltuend strategisch argumentiert. Dieses Buch, so Keese am Anfang, "macht Werbung für einen anderen Ansatz. Für das mutige Zustreben auf eine Gesellschaftsform, die in Deutschland mit erfunden, hoch entwickelt, dann aber vergessen wurde: den Kapitalismus".
Vor diesem Hintergrund und mit Rekurs auf die in letzter Zeit zum Teil heftig entwickelte Kapitalismuskritik der Globalisierung entwickelt er eine flammende Streitschrift für die Zukunft der Marktwirtschaft in diesem Land: Nicht die laufende Beschwörung von Kapitalismusdefekten oder die partielle Reform sei die Lösung, sondern eine kluge und komplette Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, um Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Überalterung, Reformstau und Stagnation zu überwinden.
Zwei Dinge sind dabei an diesem Buch so interes-sant. Zum einen erinnert uns Keese an die geistigen und philosophischen Wurzeln der freien Marktwirtschaft, nämlich daran, dass Gesellschaften auf der Grundlage demokratischer Verfassungen und mit einer sozial sinnvoll austarierten Marktwirtschaft bisher die größten Margen an Wohlstand realisiert haben, auch für jedermann. Und, dass nur prosperierende Gesellschaften einen Grad an Zivilisation erreichen, der Barbarei unmöglich mache. Er spitzt dies mit Rekurs auf den englischen Philosophen John Locke zu: "Das Recht des Einzelnen, Eigentum zu besitzen und zu nutzen, ist die Grundlage für den Rechtsstaat und politische Freiheit."
Zum zweiten weist der Autor darauf hin, dass die Bewältigung der Krise in Deutschland nicht nur die Sache einer eng begrenzten politischen Kaste oder der Gesetz gebenden Bürokratie sei. Einzelne Reformen genügten einfach nicht mehr, um den Teufelskreis von Abschwung und Frustration zu durchbrechen. Deutschland brauche einen Bewusstseinswandel, der gewissermaßen alle Stake-Holder des Systems umfasst, also Gewerkschaften, Arbeitgeber, Unternehmen und natürlich die arbeitenden Menschen selbst.
Nur wenn die Deutschen ihren Frieden mit der Marktwirtschaft machen, so Keese, könnten sie die Arbeitslosigkeit besiegen und dem internationalen Konkurrenzdruck standhalten. Verordnungen allein nützten wenig, es komme auf das Denken und Handeln jedes Einzelnen an. Hierbei verschweigt der Autor nicht, was er an systemischen Lösungen für notwendig hält. So ist er dann so frei, am Schluss das Szenario eines Deutschland zu zeichnen, das im Rahmen eines gewaltigen Kraftaktes und mit Beteiligung aller relevanten Akteure vor allem dereguliert, innovativ, produktiv und damit wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt aufgestellt ist.
Liest man dies genau, so wird klar, dass dies fast ei-ner neuen Staatsgründung gleichkommt. Naiv? Illusionär? Gar weltfremd? Nein, die Zeit für diese fundamentale Debatte ist nun endgültig da. Jürgen Turek
Christoph Keese
Rettet den Kapitalismus.
Wie Deutschland wieder an die Spitze kommt.
Verlag Hoffman und Campe, Hamburg 2003;
302 S., 19,90 Euro