Wenn in der Haushaltskasse wieder einmal Ebbe herrscht, begeben sich die Frauen von Biharkeresztes in den "Keleti Diszkont". Warum der Besitzer seinen unscheinbaren Eckladen im Gemeindezentrum Ost-Discount getauft hat, wird bei näherer Begutachtung des Warenangebots deutlich: Mehr als Billigtextilien aus Hongkong kann man dort nicht erwarten.
Im Gegensatz zum weit entwickelten Westen Ungarns und zur dynamischen Hauptstadt Budapest müssen die Bewohner des strukturschwachen Ostteils entlang der rumänischen Grenze jeden Forint mehrfach umdrehen, bevor sie ihn ausgeben. Dass die Bewohner der 4.300 Einwohner zählenden Gemeinde nicht selten verdrossen wirken und der Zukunft pessimistisch entgegenblicken, hat seine Gründe. Die wenigen Betriebe, die Arbeitsplätze anboten, haben nach der politischen Wende dicht gemacht.
Als ein Budapester Landwirtschaftsmaschinenhersteller den Zweigbetrieb in Biharkeresztes einstellte, verloren 600 Mitarbeiter ihren Job. Die ausgeräumte Fertigungshalle, die allmählich verfällt, steht für den ökonomischen Niedergang einer östlichen Grenzregion, in der sich der Wunsch nach Privatinvestoren bisher als Illusion erwiesen hat.
Bihar, wie die flache Gegend im Tiefland genannt wird, zählte nie zu den ungarischen Regionen, in denen Milch und Honig floss; früher lebten dort Haiduken, die sich als Kleinbauern und Viehhirten mit den Osmanen und Habsburgern schlugen. Sie erbauten in der kargen Weidelandschaft Ortschaften, deren Kirchen mit ihren vier Ecktürmen aus Holz einen Vorgeschmack auf das benachbarte Siebenbürgen vermitteln.
Dass man dort seine Gebrechen in Thermalbädern kurieren kann, hat der kargen Landschaft touristisch wenig genützt. Wer den Osten besucht, geht in das hervorragend restaurierte Debrecen, einst Mittelpunkt des ungarischen Kalvinismus und in die benachbarte Hortobágy-Puszta, Europas größte Naturheidelandschaft.
Hätten die meisten Bewohner von Biharkeresztes nicht etwas Ackerfläche und Vieh, wäre das Lebensniveau noch niedriger. Es zu heben, ist Aufgabe von Mihaly Fülöp, "Polgarmester" und damit Rathauschef.
Bis zur Wende 1989 Geschichts- und Geographielehrer an der Gemeindeschule, erinnert sich der 60-jährige Bürgermeister wehmütig an die anfängliche Aufbruchsstimmung. Sie ist einer gründlichen Ernüchterung gewichen: "Wir liegen in der am wenigsten entwickelten Region Ungarns, es gibt keine Arbeitsplätze, zu wenig Fachkräfte und die Infrastruktur ist viel zu schwach", lautet sein Urteil. Wohl hätten westliche Investoren Interesse an Bihar gezeigt, "nach ihrem Besuch haben wir jedoch nie mehr etwas von ihnen gehört". Warenverteilungsunternehmen etablierten sich in Rumänien, weil dort die Lohnkosten tiefer liegen.
Ob sich die wirtschaftliche Lage seit dem Beitritt Ungarns zur EU im Mai 2004 bessert? "Das hoffen wir, wir haben ja nichts mehr zu verlieren. Aber zum Amt eines Bürgermeisters gehört ja schließlich eine gesunde Portion Optimismus", meint der Polgarmester mit entwaffnendem Lächeln. Gewiss kann auch seine strukturschwache Region mit Fördermitteln aus dem Strukturhilfetopf rechnen; nach den Vorgaben der EU hat Ungarn die 31 Kapitel des Brüsseler "Acquis communautaire" Punkt für Punkt eingearbeitet und damit sein rechtliches und politisches System der EU angeglichen. Erst dann können die Transformationsstaaten Ost- und Mitteleuropas EU-Fördermittel beantragen.
Hinter den Fassaden seines Rathauses aus der sozialistischen Ära hat man die Zeit bereits genützt. Alle Büros sind mit modernen Computeranlagen ausgestattet, während die Flut neuer Rechtsvorschriften nicht abreißt, müssen sich die Mitarbeiter mit den Regeln vertraut machen und ratsuchenden Bürgern gleichzeitig die neue Vorgehensweise erklären.
Stolz verweist der Bürgermeister auf Gemälde in den Sitzungszimmern. Sie zeigen Landschaften, Menschen und Tiere, wie man sie im Biharland überall antrifft. Nicht wenige Kunstwerke erwarb Fülöp von Malern, die jenseits der Grenze auf rumänischem Staatsgebiet leben. Und darin liegt eine Besonderheit von Bihar, einstmals größtes Komitat Alt-Ungarns und seit 1920 zweigeteilt. Die Staatsgrenze zerschnitt familiäre Bande, zerstörte jahrhundertelang gewachsene Wirtschaftsbeziehungen und verurteilte den ungarischen Bevölkerungsteil zu einer Randexistenz. Seither liegt der städtische Mittelpunkt Nagyvárad, das heute Oradea heißt, zwar keine zehn Kilometer von Fülöps Gemeinde entfernt; wer Großwardein - so hieß Oradea während der k.-u.k-Zeit bei den Deutschsprachigen - von Ungarn aus erreichen will, sollte es jedoch nicht eilig haben, da ihm am Grenzübergang Geduld abverlangt wird.
Hinter dem Ortsausgang führt eine neue Schnellstrasse zur modernen Zollanlage Ártánd. Kleine Restaurants, Geschäfte und Wechselstuben zeigen, dass sich am Grenzverkehr Geld verdienen lässt. An diesem Grenzübergang werden täglich bis zu 12.000 Fahrzeuge in Richtung Rumänien abgefertigt. Nach der ungarischen Ausreisekontrolle reihen sich die Fahrer in die Warteschlange vor dem rumänischen Zoll ein. Da die Ausweise systematisch überprüft werden, müssen die Reisenden in der brütenden Sommerhitze des Tieflandes bisweilen lange ausharren. Sie legen eine beachtliche Gelassenheit an den Tag: "Zu Ceaucescus Zeiten haben sie uns manchmal zwischen zehn und 20 Stunden braten lassen", erinnert sich ein älterer Ungar. Nach Ungarns EU-Beitritt hat sich die Lage bei Ártánd erneut verändert. Als Mitglied besitzt Ungarn gemäß Schengen-Vertrag eine EU-Außengrenze, die stärker als bisher überwacht werden muss. Mit Rücksicht auf die 1,5 Millionen Ungarischstämmigen hat man beschlossen, Rumänen die Visumspflicht zu ersparen.
Verkehrsstaus, allerdings aus der anderen Richtung, sind nicht zu vermeiden. Brüssel habe von Budapest eine Erhöhung des Grenzpersonals um 20 Prozent gefordert, um die grüne Grenze besser zu überwachen. "Die EU hat uns mit Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Nachtsichtgeräten ausgestattet, wir haben jetzt EU-Niveau", verkündet Unterleutnant Lászlo Balogh.
Bürgermeister Fülöp gibt sich derweil ganz anderen Zukunftsvisionen hin: "Rumänien muss so schnell wie möglich Mitglied der EU werden, dann gehört diese Trennlinie endgültig der Vergangenheit an, sie ist dann nur noch virtuell." Bis zum Beitritt, den Bukarest optimistisch für 2007 anpeilt, wird man sich in Geduld üben müssen; wie ausgeprägt das Wohlstandsgefälle zwischen beiden Ländern ist, merkt man gleich nach dem Grenzübertritt; auf der linken Straßenseite verrotten Fernwärmeleitungen. Außer grünen Versicherungskarten für Rumänen, die nach Ungarn fahren, wird rein nichts angeboten.
Bei rund 240.000 Einwohnern besitzt Oradea ein beachtliches Architekturerbe, aber nur wenige Baudenkmäler wurden bisher renoviert. Wer von dort nach Ungarn fährt, kauft vor allem elektronisches Gerät, denn es ist billiger. Ungarische Staatsbürger hingegen tanken das günstigere Benzin und halten Ausschau nach Kleidung. Thomas Vesern