Wäre der Komponist nicht schon über 100 Jahre tot gewesen, könnte man denken, er hätte sein Werk eigens zu diesem Anlass geschaffen: Mit der "Weihe des Hauses" von Ludwig van Beethoven begann am 7. September 1949 der Festakt zur Konstituierenden Sitzung des 1. Deutschen Bundestages in Bonn. Komponiert hatte der wohl berühmteste Bonner die Ouvertüre 1822 zur Eröffnung des Josefstädter Theaters in Wien.
Im September 1949 wurde jedoch nicht einfach nur ein Gebäude seiner neuen Bestimmung übergeben: Erstmals seit 17 Jahren trat - in der ehemaligen Pädagogischen Akademie in Bonn - wieder ein frei gewähltes deutsches Parlament zusammen. Im Monat zuvor, am 14. August, hatten 31 Millionen wahlberechtigte Bürger des westlichen Deutschland ihre Stimmzettel abgegeben und dafür gesorgt, dass CDU und CSU die stärkste Fraktion im Bundestag bildeten. Von den 402 Mandaten konnte sie 139 (das entsprach 31 Prozent) erringen, gefolgt von der SPD, die 131 (29 Prozent) Abgeordnete stellte. 52 Sitze entfielen auf die FDP und 17 auf die konservative Deutsche Partei (DP). Ebenfalls 17 Vertreter entsandte die Bayernpartei. Auch kleinere Parteien wie die "Wirtschaftliche Aufbauvereinigung" (WAV) mit zwölf und die katholische Zentrumspartei mit zehn Sitzen waren im Parlament vertreten. Die KPD präsentierte sich mit 15 Abgeordneten in Bonn.
Zwar befürworteten viele Mitglieder der Union eine große Koalition mit der SPD. Diese kam aber wegen der unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen beider Parteien nicht zustande. Schließlich setzte sich die vom Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Konrad Adenauer, angestrebte bürgerliche Koalition der Union mit den beiden Juniorpartnern FDP und DP durch.
Die Woche der Premieren begann in der neuen Bundeshauptstadt Bonn bereits um 11.00 Uhr, als sich der Bundesrat zu seiner ersten Sitzung zusammenfand und den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, zu seinem Präsidenten wählte. Um 16.00 Uhr eröffnete der Alterspräsident des Bundestages, Paul Löbe (SPD), dann dessen erste Sitzung. Der SPD-Politiker war von 1920 bis 1924 und von 1925 bis 1932 Präsident des Reichstages der Weimarer Republik gewesen. Er erinnerte schon allein durch seine Person an jenes Kapitel des deutschen Parlamentarismus, an das die Abgeordneten zwar anknüpfen, von dem man sich aber gleichzeitig auch distanzieren wollte und musste.
Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung, die 1932/33 erheblich zum Untergang der ersten Republik beigetragen hatten, mussten überwunden werden. Daran hatte sich auch die Arbeit der Verfassungsmütter und -väter im Parlamentarischen Rat orientiert, der gut ein Jahr zuvor, im September 1948, zusammengetreten war und am 23. Mai 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland feierlich verkündet hatte. Verworfen wurde zum Beispiel die in der Weimarer Republik bestehende dualistische Konstruktion der Staatsspitze mit ihrem Nebeneinander von Elementen eines parlamentarischen und präsidialen Regierungssystems. So sollten Präsidialregierungen, wie sie das Ende der Weimarer Zeit bestimmten, vereitelt werden. Statt dessen etablierten die Verfassungsschöpfer ein parlamentarisches Regierungssystem, in dem allein das Parlament für die Einsetzung oder auch Absetzung des Regierungschefs zuständig sein sollte.
Paul Löbe erinnerte in seiner Rede direkt an jene fatale Entwicklung und an das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten 1933, mit dem endgültig "die staatsbürgerlichen Freiheiten für lange Jahre begraben" worden waren. Vor diesem historischen Hintergrund bekräftigte der Alterspräsident: "Uns bewegt nicht der Gedanke nach einer Form von Vorherrschaft. Wir wollen mit allen Gliedern in den Kreis der europäischen Nationen treten."
Nur fünf Tag später besaß die junge Bundesrepublik ihren ersten Präsidenten: Am 12. September wählte die Bundesversammlung den liberalen Politiker Theodor Heuss in dieses Amt, das, als Lehre aus der Weimarer Vergangenheit, politisch neutral und ohne politische Macht (also ohne die damaligen Notverordnungsrechte) ausgeübt werden sollte. Heuss wurde in den folgenden zehn Jahren seiner Amtszeit zu einem regelrechten politischen Aushängeschild des neuen Deutschlands (West). Vervollständigt wurde die Staatsspitze am 15. September: Der Bundestag wählte auf Vorschlag von Heuss den 73-jährigen Konrad Adenauer mit 202 Stimmen zum ersten Bundeskanzler. Die - erfolgreiche - Integration in den Kreis der westlichen Nationen konnte beginnen.
Claudia Heine