Das Völkerrecht regelt vorwiegend das Verhältnis souveräner Staaten untereinander sowie das der internationalen und übernationalen Staatengemeinschaften. Dem klassischen Völkerrecht war der Gedanke einer Haftung von Einzelpersonen für von ihnen verschuldetes Unrecht fremd. Das Strafrecht umfasst dagegen die Normen, die eine Strafbarkeit des Individuums begründen.
Bis zum Ersten Weltkrieg war eine Verknüpfung beider Rechtsgebiete undenkbar. Erstmals mit den Vertreibungen der Armenier durch die Türkei und mit den Kriegsverbrechen der deutschen Verlierer kam die individuelle Verantwortlichkeit ins Blickfeld der internationalen Staatengemeinschaft. Die Herausbildung eines eigenständigen Völkerstrafrechts zeichnet das juristisch wie zeitgeschichtlich bahnbrechende Werk von Gerhard Werle nach. Der Autor hat den Lehrstuhl für "deutsches und internationales Strafrecht, Strafprozeßrecht und Juristische Zeitgeschichte" an der Humboldt-Universität zu Berlin inne.
Die Aufnahme der Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs im vergangenen Jahr bildet den vorläufigen Schlusspunkt unter eine rasante politische Entwicklung, die mit den Internationalen Militärgerichtshöfen von Nürnberg und für Fernost begonnen hatte. Damals hatte die internationale Staatengemeinschaft die Aggressions- und Kriegsverbrechen der deutschen und japanischen Hauptverantwortlichen in Tribunalen geahndet. Damals mussten die Kriegsverbrecher nach dem völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht abgeurteilt werden.
Heute sind die nach Völkerrecht strafbaren Handlungen und das Verfahren, nach dem sie geahndet werden, im Statut für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH-Statut) kodifiziert. Gegenstand des Völkerstrafrechts sind demnach diejenigen Normen, die eine direkte Strafbarkeit des Individuums nach Völkerrecht begründen, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.
Werles Buch enthält im Anhang die Texte des IStGH-Statuts, des auf seiner Grundlage in nationales Recht umgesetzten Völkerstrafgesetzbuchs sowie die historischen Statuten der Militärgerichte für Nürnberg und Fernost. Aktuell haben die größte praktische Bedeutung die beiden Gerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda, die in Den Haag tagen und in langwierigen Verfahren die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den beiden größten Katastrophen der 90er-Jahre ahnden.
Wehrle behandelt diese beiden für die Fortbildung des Völkerstrafrechts bahnbrechenden Verfahren. Demzufolge beschäftigt der Jugoslawien-Strafgerichtshof über 1.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus mehr als 80 Ländern. Für das Jahr 2002/2003 verfügte der Gerichtshof über ein Budget von rund 220 Millionen US-Dollar. Für den Ruanda-Strafgerichtshof werden nur ähnliche Zahlen angegeben.
Der juristische Teil des Buches vermittelt einen Eindruck, wie sich die beiden Rechtssysteme der westlichen Demokratien, das anglo-amerikanische Common-Law und das kontinentaleuropäische Civil Law, gegenseitig ergänzen. Die Berücksichtigung so unterschiedlicher, gerade im Strafrecht erheblich voneinander abweichender Rechtskulturen, hat nicht immer zu systematisch befriedigenden Lösungen geführt. Hier wird erst die Praxis des Internationalen Strafgerichtshofs im Laufe der Jahre für mehr Rechtssicherheit und Perspektiven einer Rechtsfortbildung sorgen.
Den politischen Kampf um dieses Gericht, der von deutscher Seite vor allem mit dem Namen des früheren Außenministers Klaus Kinkel verbunden ist, zeichnet Werle prononciert nach. Das Römische Statut des IStGH ist zwar 1998 von 120 Staaten angenommen worden. Aber so wichtige Länder wie die USA, China, Israel, Irak und Libyen lehnten es ab. Inzwischen haben über 150 Staaten das Statut unterezeichnet, über 100 sind ihm beigetreten, so dass das Gericht am 21. April 2003 in Den Haag seine Arbeit aufnehmen konnte. Zu den von der Versammlung der Vertragsstaaten gewählten 18 Richtern zählt der Deutsche Hans-Peter Kaul. Als Ankläger wurde der Argentinier Luis Moreno Ocampo gewählt.
Vor allfälligen Spielchen, die Ereignisse der Zeitgeschichte an dem Verbrechenskatalog der IStGH-Statuts abzugleichen und entsprechende Verurteilungen vorzunehmen, sei ausdrücklich gewarnt. Natürlich muss die Intervention der USA und Großbritanniens im Irak politisch neu bewertet werden, nachdem die künstlich aufgebaute Bedrohungskulisse durch angebliche Massenvernichtungswaffen fortgefallen ist. Natürlich müssen die Regeln für innerstaatliche gewaltsame Konflikte auch auf Russland und Tschetschenien angewandt werden. Sicher gehören auch die wechselseitigen Gewaltmaßnahmen zwischen Israel und Palästinensern dazu. Die Materie ist aber zu kompliziert, um sie dem Stammtisch zu überlassen. Die Hoffnung auf wirksame Ahndung und Abschreckung, auf zivilisatorischen Fortschritt durch die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs wird nicht auf schnellen, eher auf nachhaltigen Erfolg zu setzen sein. Harald Loch
Gerhard Werle
Völkerstrafrecht.
Mohr Siebeck, Tübingen 2003; 553 S., 89,- Euro