Ein lauer Augustabend in einer der berühmtesten Straßen Berlins, der Oranienburger Straße, und ein Kandidat. Er spricht, brüllt, faucht sich heiser - kann nur Joschka Fischer sein. Er ist gut gelaunt und witzelt, so nah an seiner Wohnung habe er noch nie Wahlkampf gemacht: Zwischen dem inzwischen schick gewordenen Kulturzentrum "Tacheles" und dem Gebäude, in dem sich 2002 die SPD-Wahlkampfzentrale "Kampa" befand, liegt noch immer eine brach liegende Fläche, parkplatzgroß in Blickweite der jüdischen Synagoge. Von hier aus ist der Außenminister in fünf Minuten zu Hause in seiner Berliner Wohnung. Würde man einen Spielfilm drehen, in dem der grüne Wahlkampf eine Rolle spielt, müsste es genau so aussehen: Ein auf modern getunter Bauwagen mit hochgeklapptem Sonnensegel als Rednerpult, ein paar Biertische und grüne Sonnenschirme. Und genau dieser Ort. "48 Stunden - Die grüne Rede-Rallye an der Wählbar" haben die Wahlkämpfer ihre Veranstaltung getauft, bei der die gesamte Grünen-Prominenz spricht - man merkt, es macht ihnen inzwischen Spaß. "Wollen Sie etwa einen Außenminsiter Westerwelle haben?", ruft der amtierende Außenamtschef kampfeslustig in die Runde aus Touristen, Fans, Grünen und Journalisten. Mit den in der Visa-Politik gemachten Fehlern geht Fischer im Wahlkampf offensiv um - er verschweigt sie nicht, sondern nutzt sie, um sich als Mensch mit Stärken und Schwächen getreu dem Motto "Jeder macht mal Fehler" ganz menschlich zu zeigen.
So müssen sich die Grünen im Bundestagswahlkampf in zweierlei Hinsicht in ein ungewolltes Schicksal fügen - bezüglich des Zeitpunktes und in der Person ihres Spitzenkandidaten. Obwohl es neben der personell recht identischen Besetzung weitere Parallelen zum Bundestagswahlkampf 2002 gibt, haben es die Grünen diesmal ungleich schwerer. Nicht nur, weil die persönlichen Umfragewerte von Joschka Fischer am Fallen sind. Auch die innere Verfassung der Partei ist komplizierter geworden. Man kann derzeit bis zu vier verschieden denkende Lager ausmachen, die sich jenseits der herkömmlichen Aufteilung in eher linksorientierte Fundamentalisten ("Fundis") und eher wertkonservative oder pragmatische Realisten ("Realos") bilden.
Zur ersten Gruppe zählen jene, bei denen spätestens seit der Entscheidung zur Beteiligung der Bundeswehr im Kosovo ein pragmatischer Politikansatz auszumachen ist, der sich in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode weiter verstärkt hat. Man könnte diese Gruppe die "Regierungspragmatiker" nennen, die sich um die drei Minister Joschka Fischer (Außenpolitik), Renate Künast (Verbraucherschutz, Ernährung, Landwirtschaft) und JürgenTrittin (Umwelt) scharen. In diesen Politikfeldern wurde in den sieben Regierungsjahren viel erreicht, die Minister können auf eine recht erfolgreiche Bilanz zurückschauen, gemessen an der Machbarkeit im Zusammenspiel mit dem mächtigen Koalitionspartner SPD und den Interventionsmöglichkeiten des unionsgeführten Bundesrates. Selbst der als erster Grüner im traditionell von den Liberalen besetzten Außenamt anfangs kritisch beäugte Joschka Fischer hat in seinen sieben Amtsjahren wenig Kritik aus der deutschen Opposition ertragen müssen - zumindest bis zur Visa-Affäre. Die "Pragmatikergruppe" schöpft aus dieser Regierungsbilanz, sich trotz einer als verloren geltenden Wahl auch weiterhin kämpferisch zu geben.
Die zweite Gruppe, deren Mitstreiter sich zum Teil ebenfalls an den Schalthebeln der Macht befinden, ist eher geprägt von einer Sehnsucht nach radikaler Erneuerung. Ausgepowert wie die FDP in den letzten Amtsjahren der Regierung Kohl vor 1998, leiden sie unter Profil- und Identitätsverlust. Sie wünschen sich eine breite Diskussion in der Partei über die neuen Herausforderungen durch Globalisierung, Umwelt oder die Erweiterung Europas. Es scheint, als sehne sich manch einer von ihnen fast schon in die Opposition und damit nach inhaltlicher Erneuerung.
Die dritte Gruppe würde eigentlich gerne weiterregieren, möchte sich jedoch langsam vom Übervater Joschka Fischer trennen. In ihren Denkmustern ähnelt diese Gruppe der ersten und glaubt, Erneuerung plus Weiterregieren gleichzeitig bewerkstelligen zu können. Zu ihnen kann man aber auch einmal mehr Renate Künast und Parteichef Reinhard Bütikofer zählen.
Die vierte Gruppe ist eher an der Basis und nicht in den "Schaltzentralen der Macht" im Berliner Regierungsviertel zu finden. Jene, die meinen, ihre eigene Partei nicht mehr wiederzuerkennen - möglicherweise die radikalere Variante der oppositionssehnsüchtigen Angehörigen der Bundestagsfraktion, die kurz vor dem Austritt stehen und - wären sie so viele wie die Schar um Oskar Lafontaine und Gregor Gysi - vielleicht auch eine neue Partei gründen würden.
Die innere Verfasstheit der Partei ist also nicht ganz so kämpferisch auf Wahlsieg ausgerichtet, wie es ihr Spitzenmann mit seinem Wahlkampfbus durch die deutschen Lande ruft. Inhaltlich gesehen hat die Partei nach Einschätzung von politischen Beobachtern weniger prägnante Merkmale als früher zu bieten. So ist beispielsweise die Umweltpolitik von den anderen Parteien ins Programm aufgenommen und wirklich kein ausschließlich grünes Erkennungsmerkmal mehr.
In der rasterhaften und wenig detaillierten Sicht der Wähler ist allein die Frage der Fortsetzung des 1999 von Rot-Grün beschlossenen stufenweise ablaufenden Atomausstieges noch ein Unterscheidungskritierium zu Schwarz-Gelb, auch wenn es bei genauerer Betrachtung weitere umweltpolitische Themenfelder wie die Förderungsintensität für erneuerbare Energien gibt. Doch diese Themen taugen nicht zur Polarisierung in einer halbstündigen Wahlkampfrede von Joschka Fischer. Er setzt auf Generationengerechtigkeit und auch - wie alle anderen Parteien - auf das Hauptthema Arbeitsplätze. Die Grünen fordern eine armutsfeste soziale Grundsicherung, die ihnen die Kritik einiger Institute für Wirtschaftsforschung eingebracht hat. Das von den Grünen entwickelte und im Vergleich zur SPD wesentlich ausgereiftere Konzept einer komplexen Bürgerversicherung ist für die Bürger auf der Straße oftmals nicht verständlich und eher etwas für Spezialisten als für den Mann auf der Straße.
Die zwei Charakteristika des Bundestagswahlkampfes 2005 - erstens das scheinbar sichere Ergebnis einer Abwahl der rot-grünen Koalition und zweitens das Hauptthema Arbeit - bringt die Grünen in eine besonders defensive Lage. Sie versuchen ihr zu entkommen, indem sie ihren Wählern das Gefühl geben, auch in einer Oppositionsrolle mit ihren Themen gebraucht zu werden.
Die Parteispitze der Grünen hat die Lage in Umfragen so analysiert, dass Wähler der Grünen eher bereit sind, der Partei treu zu bleiben, auch wenn fast sicher von einer Nicht-Regierungsbeteiligung ausgegangen werden muss.
Die Union und die FDP haben ihre Oppositionsphase genutzt, um sich von manchen alten Schablonen zu lösen. Vor allem die Union hat ihr Frauen- und Familienbild nach außen verändert und auch die FDP hat mit ihrem Parteivorsitzenden Guido Westerwelle einen Generationswechsel vollzogen. Grabenkämpfe von Alt gegen Neu, von Tradition versus Moderne sind für die Grünen daher schwerer zu führen geworden. Man ist realistisch in den Erwartungen und rechnet in derParteizentrale mit einem Ergebniskorridor von sechs bis neun Prozent der Wählerstimmen.
"Rot-Grün mag gescheitert sein. Aber eine Maggie-Merkel-Regierung wird die Frage beantworten müssen: Wie steigert man Scheitern?", das jedenfalls fragt der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch zur Wahl 2005 für jenen Fall, dass eine konsequent unternehmerfreundliche Politik zu Lasten der Arbeitnehmer doch nicht die gewünschten Konjunkturimpulse und neuen Arbeitsplätze schaffen würde. Das ist wahkampfstrategisch gesehen die Hauptfrage, von der sich die Grünen einen Erfolg beim Wähler versprechen.
Diese Skepsis zu pflegen, schickt sich auch Joschka Fischer derzeit an. "Man soll den Kampf nicht aufgeben, solange er noch stattfindet", krächzt er daher auch an diesem Abend in der Oranienburger Strasse mit belegter Stimme gut gelaunt in die Mikrofone.