Hinter "Hamas" verbirgt sich eine Abkürzung und ein Wort zugleich. "Harakat al-muqawama al-islamiyya" bedeutet "Islamische Widerstandsbewegung" und das arabische Wort selbst "Begeisterung" und "Eifer".
Die Gründungscharta der Hamas von 1988 erklärt "die Fahne Allahs über jedem Zoll von Palästina aufzuziehen" zum Ziel. Palästina dürfe, da "islamisches Heimatland" niemals Nicht-Muslimen überlassen werden. Als Fernziel gilt die Errichtung einer islamischen Theokratie. In den Augen des israelischen Journalisten Danny Rubinstein hat die Hamas das Programm des jüdischen "Blocks der Getreuen" (Gush Emunim) kopiert. Die hätten schon 1968 verkündet: Keinen Zentimeter Boden an Nicht-Juden!
Schon immer hat die Organisation neben politischen Mitteln auch Gewalt angewandt, um ihre Ziele zu erreichen. Nach eigenen Angaben hat die Hamas zwischen 1987 und 1993 "nur zionistische Soldaten und Siedlungen" angegriffen. Erst nachdem der jüdische Siedler Baruch Goldstein im Februar 1994 29 Muslime während des Betens in der Abraham-Moschee in Hebron niederschoss, seien auch "zionistische zivile Besatzer" Zielscheibe der Bewegung. Zwei Monate nach diesem "zionistischen Massenmord" verübte die Hamas die ersten "Märtyrer-Attentate" in Israel.
"Friedensinitiativen und so genannte friedliche Lösungen stehen alle im Gegensatz zu den Überzeugungen der islamischen Widerstandsbewegung", heißt es in der Charta der Bewegung, die ihre Beliebtheit nicht zuletzt dem Engagement für Bildung und medizinische Versorgung verdankt. Doch wo steht die Hamas, bei den Parlamentswahlen mit dem Motto "Wechsel und Reform" angetreten, heute? Gilt der Charta-Slogan "Allah ist das Ziel, der Prophet das Vorbild, der Koran die Verfassung, Jihad der Weg und Tod für die Sache Gottes der erhabenste der Wünsche" immer noch?
Vor den Wahlen hatte Hamas-Führer Mahmud Al-Zahar mit seiner Aussage aufhorchen lassen, Verhandlungen mit Israel seien "kein Tabu". Der in Haft sitzende Muhammad Ghazal soll gesagt haben, dass die Hamas-Charta "nicht der Koran" und deshalb veränderbar sei. Und der politische Führer Khaled Mashal hat dieser Tage bekanntgegeben, dass ein "langer Waffenstillstand mit Israel" möglich sei, sollte sich "der jüdische Staat auf die Grenzen von 1967 zurückziehen". Wenige Tage zuvor hatte der in Damaskus residierende Mashal allerdings versichert, Hamas werde niemals die Existenz des Staates Israel anerkennen.
Kann die israelische Regierung unter diesen Bedingungen mit der Hamas reden? Shimon Peres hat sich dafür ausgesprochen. Ebenso die israelische Friedensinitiative "Gush Shalom". Sie fordert, die Palästinenser auch weiter finanziell zu unterstützen. Sonst werde die Armut und die Unterstützung für Hamas steigen und die Menschen "in die Arme des Iran" getrieben.
Ein Israeli, der schon seit Jahren mit Hamas-Führern redet, ist Rabbi Menachem Froman. Mehrmals hatte er - den später von den Israelis getöteten - Scheich Jassin im Gefängnis besucht. Nach seiner Entlassung trafen sich die beiden in Gaza wieder. Vor Hunderten seiner Anhänger und der Presse erklärte er: "Dies ist der Rabbi, mit dem ich mehrere Gespräche während meiner Haft hatte. Er hat immer einen Waffenstillstand auf religiöser Basis vorgeschlagen. Und ich stimme einem solchen Waffenstillstand zu." Mehr als einmal hat Fromann von Hamas-Vertretern gehört: "Mit Dir würden wir in fünf Minuten Frieden schließen." Gäbe die Regierung den Rabbinern die Chance, sich für Frieden einzusetzen, dann "würde uns vielleicht Frieden mit dem Islam geschenkt", glaubt Froman.
Der Israeli Gershon Baskin von der "israelisch-palästinensischen Denkfabrik" (IPCRI) wünscht sich in der Tat eine Beteiligung von Religionsführern bei Friedensverhandlungen. Der aus Amerika stammende Jude fragt sich allerdings, ob die Hamas ein Verhandlungspartner für Israel sein kann. Verwirrend sind für ihn die "sehr unterschiedlichen Botschaften über die künftige Politik von Hamas". Sogar von ein und demselben Hamas-Mitglied könne man widersprüchliche Äußerungen hören. "Deshalb ist es ziemlich schwierig herauszufinden, wohin der Weg führen wird."
Diesen Weg auszuloten, nehmen sich derzeit Kommentatoren und Politologen vor. Im "Dailah"-Zentrum in West-Jerusalem versuchte dieser Tage Danny Rubinstein von der israelischen Zeitung "Ha'aretz" eine Analyse. Der Kenner der palästinensischen Gebiete gesteht, er sei zwiegespalten. In ihm gebe es einen Teil, der sich angesichts des Hamas-Sieges "freut, und einen Teil, der sich Sorgen macht". Der Journalist fürchtet nicht, dass Palästina zu Saudi-Arabien werde, obgleich der Hamas-Sieg durchaus "die Substanz der palästinensischen Gesellschaft zerstören könnte". Deshalb sorge er sich mehr um die Palästinenser als um seine israelischen Landsleute. Denn "Hamas kann den Staat Israel nicht zerstören". Israel verfüge doch über eine der stärksten Armeen der Welt. Was den Journalisten optimistisch macht, ist "die Disziplin bei Hamas". Die habe sich im Wahlkampf gezeigt und auch im Waffenstillstand, der vor einem Jahr geschlossen wurde: "Hamas hält sich bis heute daran."
Warum stimmte die Mehrheit der palästinensischen Wähler für Hamas? War es tatsächlich nur ein Denkzettel für die Fatah? Khalil Shikaki vom Palästinensischen Zentrum für Politik- und Meinungsforschung ist überzeugt, dass die überwältigende Mehrheit der Hamas-Wähler die islamische Bewegung am besten geeignet für die Lösung der "heimischen Angelegenheiten" halte. "Die Wahl war keine Abstimmung über den Friedensprozess", versichert Shikaki.
Dessen Scheitern macht Ramzi Zananiri vom Nah-ostkirchenrat für die "Islamisierung der Gesellschaft" samt Hamas-Sieg verantwortlich. Dazu kämen "die Wirtschaftskrise und steigende Armut, die Fortsetzung der Aggression und Unterdrückung durch die Besatzung, Korruption und fehlende Transparenz der Autonomiebehörde". Die bedingungslose Unterstützung Israels durch die USA hätte ebenfalls zur Radikalisierung beigetragen. Für den palästinensischen Christen ist daher das Wahlergebnis "verständlich angesichts fehlender Aussichten auf Frieden und Gerechtigkeit".
Aber Hamas und Frieden scheinen nicht zusammenzupassen. Allein wegen des Passus über die "Auslöschung Israels". Drei Viertel der Hamas-Wähler hätten keine Zerstörung Israels im Sinn, hieß es jedoch schon wenige Tage nach der Wahl. "Wen kümmert es schon, ob die Mehrheit der Hamas-Anhänger Frieden wolle oder nicht?", gibt Danny Rubinstein zu bedenken. "Letztlich wird die Hamas-Führung entscheiden." Hanna Siniora, palästinensischer Ko-Direktor bei IPCRI prophezeit unterdessen, dass die Hamas sich "prominente unabhängige Köpfe" in die Regierung holen werde, "um sich akzeptaler gegenüber der internationalen Gemeinschaft" zu machen. Für den Christen aus Jerusalem könnte der Hamas-Sieg sogar "ein verkleideter Segen" sein. Vielleicht werde es ja so sein, dass - wie zu Zeiten Menachem Begins - "die Rechten den Frieden bringen werden". "Hamas ist in der Lage, sich zu ändern", gibt sich Siniora optimistisch. Auch der prominenteste israelische Friedensaktivist Uri Avnery sieht das Potenzial, "die radikale Bewegung zu mäßigen".
Diese Hoffnung teilen die Menschen auf der israelischen und palästinensischen Straße jedoch nur bedingt. Jiries, ein Christ aus Jerusalem, rechnet nun mit Zwangsverschleierung für alle Frauen und strengem Alkoholverbot. Nora Kort, die Länderbeauftragte des Internationalen Christlich-Orthodoxen Wohlfahrtsverbandes hält das "Leben für die Christen weiterhin für möglich" - zumindest dann, wenn die "Hamas eine politische Partei werden und ihre religiöse Identität aufgeben" sollte. Die Hamas brauche die christliche Präsenz im Heiligen Land.
"Sabeel", das palästinensische Zentrum der Befreiungstheologie, gibt der internationalen Staatengemeinschaft Folgendes zu bedenken: Sollte Druck auf die Hamas ausgeübt werden, "den Weg der Gewaltlosigkeit einzuschlagen", müsse dasselbe für Israel gelten. Einziger Weg, Mäßigung auf allen Seiten zu erreichen, sei eine "faire Politik gegenüber beiden Seiten". Hoffnung schöpft Sabeel aus den Worten von Hamas-Führer Khaled Mashal: "Lasst uns demütig vor Gott und unserem Volk sein. Wir werden niemandem Ungerechtigkeit widerfahren lassen."