Am 6. November 1998 beschrieb der US-amerikanische Forscher James Thomson im Wissenschaftsmagazin "Science" erstmals, wie sich menschliche embryonale Stammzellen in einer Zellkultur halten und prinzipiell unbegrenzt vermehren lassen. Aus Embryonen, die im Zuge einer künstlichen Befruchtung übrig geblieben waren, hatte der Forscher fünf Stammzelllinien etablieren können. In Folgeexperimenten konnte er belegen, dass diese Zellen pluripotent waren, also alle rund 220 Gewebetypen des Menschen bilden können. Keine anderen menschlichen Zellen hatten je ein solches Potenzial gezeigt. Auch nicht die so genannten adulten Stammzellen, die vor allem aus Organen wie der Nabelschnur, dem Blut oder dem Knochenmark gewonnen werden und lediglich einige Gewebe (multipotent) bilden können. Seitdem sind Forscher und Mediziner weltweit von der Idee elektrisiert, mit Hilfe dieser unerschöpflichen Zellquelle das kranke Gewebe ihrer Patienten zu ersetzen.
Aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Denn die Stammzellforscher haben noch eine Menge Hausarbeiten zu erledigen. Schon die hervorstechendste Eigenschaft der embryonalen Stammzellen, ihre Pluripotenz, die in der Kulturschale ein Segen ist, stellt im Moment der Transplantation eine Gefahr dar. Denn wenn pure embryonale Stammzellen transplantiert werden, dann bilden die Zellen so genannte Teratome, tumorähnliche Gebilde aus diversen Zelltypen vom Haarfollikel bis zum Knorpel. Deshalb müssen die Zellen erst in jenen Gewebetyp differenziert werden, der beim Patienten verkümmert ist. Das ist eigentlich kein Problem, denn embryonale Stammzellen bilden in der Kulturschale spontan so genannte Embryoid Bodies, die Vorläuferzellen aller Gewebetypen enthalten. Durch Zugabe bestimmter Wachstumsfaktoren lässt sich diese spontane Differenzierung so lenken, dass vorwiegend der gewünschte Zelltyp entsteht. Besonders gut ist das bisher mit Nervenzellen und Herzmuskelzellen gelungen. Diese Zelltypen wurden deshalb auch schon häufiger in Therapieversuchen eingesetzt - zumindest an Tieren. An der Mayo-Klinik in Rochester (USA) steigerten die Herzmuskelzellen aus der Stammzellkultur die Pumpleistung von infarktgeschädigten Mäuse-Herzen erheblich. An der Universität im japanischen Kioto ging es parkinsonkranken Affen besser, nachdem man ihnen Nervenzellen ins Hirn gespritzt hatte, die aus embryonalen Stammzellen gewonnen worden waren.
Doch so sehr diese Ergebnisse die Hoffnung auf eine nahe Stammzelltherapie schüren, bisher sind die Forscher nur in der Lage, Zellgemische herzustellen. Hundertprozentig reine Kulturen aus einem Zelltyp können sie nicht garantieren. Noch schwimmen in den Zellsuppen immer auch unerwünschte Gewebetypen mit, die nach der Transplantation Nebenwirkungen hervorrufen können. Möglicherweise führten solche zellulären Verunreinigungen zu den unkontrollierten Bewegungen von Parkinson-Patienten, denen schwedische und US-amerikanische Forscher Nervenzellvorläufer aus abgetriebenen Föten ins Hirn gespritzt hatten.
Ein weiteres Problem könnte darin bestehen, genügend Zellen für die Therapie bereitstellen zu können. Für die Therapie von Parkinson-Patienten, denen jene Nervenzellen absterben, die Dopamin produzieren, müssen etwa hunderttausend Vorläufer solcher Nervenzellen im Hirn des Parkinson-Patienten anwachsen. Dazu müssen aber etwa zehn Mal mehr Zellen injiziert werden. Bei Erkrankungen wie Multipler Sklerose, wo über das ganze Hirn verteilt Zellen absterben, muss ein viel größeres Areal therapiert werden. Entsprechend mehr Zellen müssten es sein. Aber egal, wie viele Zellen es sind: Wie lange die implantierten Zellen überhaupt im Körper des Patienten überleben können, weiß bisher niemand so genau, weil Langzeitstudien fehlen. Außerdem ist unklar, ob die Zellen, die in der Kulturschale wie echtes menschliches Gewebe aussehen, auch die nötigen natürlichen Funktionen erfüllen. Zwar wissen die Stammzellforscher inzwischen, welche Gene aktiv sein müssen, damit embryonale oder adulte Stammzellen sich zum Beispiel in die Insulin produzierenden Betazellen verwandeln, die zur Therapie der Zuckerkrankheit so dringend benötigt werden. Allerdings scheinen diese künstlich hergestellten Betazellen nicht immer funktional zu sein, weil sie offenbar selbst kein Insulin produzieren. Deshalb werden die in der Kulturschale produzierten Zellen inzwischen nicht nur auf ihre wichtigsten Funktionen hin getestet, sondern auch, ob das Muster von aktiven und inaktiven Genen mit denen natürlicher Zellen übereinstimmt.
Und so wie die künstliche Kultivierung die Funktion der Zellen verändern kann, so können die Kulturbedingungen selbst zum Sicherheitsproblem werden: Denn bisher wachsen die meisten embryonalen Stammzelllinien auf Maus-Zellen (so genannten "Feeder Cells"), die vor allem als Nährstofflieferanten dienen. Zum einen könnten auf diese Weise Mausviren auf die menschlichen Zellen überspringen. Zum anderen könnte die Verunreinigung der Zellen mit tierischen Proteinen nach einer Transplantation eine Abstoßungsreaktion provozieren. Mittlerweile wachsen neue Zelllinien zwar auf humanen "Feeder Cells". Allerdings sind die Kulturmedien (wie zum Beispiel das für Zellkultur unbedingt erforderliche fötale Kälberserum) nach wie vor tierischen Ursprungs.
Doch selbst wenn die Forscher schließlich funktionierende Stammzellen in ausreichender Menge und Reinheit herstellen können - solange die Zellen nur aus wenigen Stammzellkulturen aus dem Labor stammen, sind sie genetisch nicht kompatibel mit denen der Patienten. Nach einer Transplantation bestünde auch hier die Gefahr einer Abstoßungsreaktion, so wie sie auch bei der konventionellen Organtransplantation auftritt. Es gibt aber mehrere Möglichkeiten, die Abstoßungsreaktion zu verhindern.
Zunächst kann eine Immunreaktion umgangen werden, wenn die körperfremden Zellen in Organe injiziert werden, in denen das Immunsystem nur beschränkten Zugriff hat, wie zum Beispiel das Hirn oder die Augenhöhle. Die zweite Strategie ist das therapeutische Klonen. Dazu wird der Zellkern einer Körperzelle des Patienten in eine entkernte Eizelle gesteckt. Aus dem daraus heranwachsenden Embryo können dann Stammzellen gewonnen werden, die genetisch mit den Körperzellen des Patienten identisch sind, sodass die Abstoßungsreaktion unterbleibt. Seitdem bekannt ist, dass die Experimente des Südkoreaners Hwang Woo Suk gefälscht waren, steht der Beweis allerdings noch aus, dass dieser Weg gangbar ist. Zweifelhaft ist das vor allen Dingen deshalb, weil es nach wie vor vieler Versuche und deshalb vieler Eizellen bedarf, um einen einzigen geklonten Embryo herzustellen. Bisher ist Klonen selbst bei Tieren nur im experimentellen Maßstab möglich, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass die Anzahl der benötigten Eizellen soweit gesenkt werden kann, dass das Klonen im Klinikalltag möglich wäre.
Die dritte Möglichkeit ist, so viele Stammzelllinien auf Vorrat zu halten, wie es unterschiedliche Gewebetypen gibt. Dieses Konzept wird bereits bei der Knochenmark-Transplantation zur Therapie von Leukämien verfolgt. In Großbritannien ist man bereits dabei, eine solche Stammzellbank einzurichten.
Eine vierte Möglichkeit ist die genetische Modifizierung der embryonalen Stammzellen. Dabei versucht man, die Zellen "unsichtbar" für das Immunsystem des Patienten zu machen, indem man verhindert, dass Proteine an der Oberfläche der Zellen erscheinen, die die Körperabwehr aktivieren. Eine solche gentechnische Veränderung der Stammzellen bietet auch die Möglichkeit, dem Sicherheitsproblem der Zelltherapie zu begegnen. Denn wenn die Zellen erst einmal im Körper des Patienten sind, sind sie in der Regel nicht mehr zurückzuholen. Sollten sich also Nebenwirkungen wie zum Beispiel die krebsartige Entartung der Zellen einstellen, wäre es praktisch, wenn man die Zellen irgendwie stoppen könnte, zum Beispiel durch so genannte Selbstmordgene. Diese Gene, die in das Erbgut der Stammzellen eingeklinkt werden, könnten durch Gabe einer bestimmten Substanz aktiviert und die Krebszellen so abgetötet werden, ohne das umgebende Patientengewebe zu gefährden.
Doch es gibt noch eine fünfte Möglichkeit, um genetisch mit dem Patienten identische Zellen zu gewinnen - auf embryonale Stammzellen zu verzichten und auf jene Stammzellen zurückzugreifen, die aus der Nabelschnur, dem Blut oder dem Knochenmark des Patienten gewonnen werden können, die so genannten adulten Stammzellen. Allerdings ist gegenwärtig noch offen, ob adulte Stammzellen ein ähnliches Potenzial haben wie die embryonalen. Ihr Hauptnachteil ist, dass sie wesentlich mühsamer zu gewinnen sind, denn in der Regel sind sie nur selten im ausgewachsenen Körper zu finden. So hat man beispielsweise im Hirn Stammzellen gefunden, die Nervenzellen und Stützgewebe bilden können, allerdings nur so wenige, dass das Dogma des nicht regenerierbaren Hirns nicht angetastet wird.
Die vielversprechendsten Experimente mit adulten Stammzellen laufen mit Knochenmarkstammzellen, aus denen sich normalerweise die Blutzellen von weißen und roten Blutkörperchen bilden. Da diese Zellen seit Jahrzehnten zur Therapie von Leukämien und ähnlichen Krebserkrankungen verwendet werden, wissen die Forscher, wie sich die Zellen anreichern und aus dem Blut filtern lassen. Offenbar können sich diese Zellen nicht nur in Blutzellen, sondern auch in Herzmuskel- und Leberzellen umwandeln. An der medizinischen Hochschule Hannover beispielsweise wurden 60 Herzinfarktpatienten fünf Tage nach ihrem Infarkt mit Knochenmarkstammzellen behandelt. Die Kontraktionsfähigkeit der kranken Herzen wurde um mindestens sieben Prozent erhöht. Allerdings ist es umstritten, ob sich die Knochenmarkstammzellen tatsächlich in funktionelle Herzmuskelzellen verwandeln, mit den Herzmuskelzellen fusionieren oder einen rein indirekten Effekt durch Abgabe von Wachstumsfaktoren ausüben. Auch in Rostock, Frankfurt, Düsseldorf und Heidelberg werden Knochenmarkstammzellen für die Therapie von Herzkreislauferkrankungen erprobt.
In Deutschland darf laut Stammzellgesetz nur an menschlichen embryonalen Stammzellen geforscht werden, die vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden. Bisher ist von dieser Möglichkeit lediglich 15 Mal Gebrauch gemacht worden. Zuletzt vom Kölner Stammzellforscher Jürgen Hescheler, der widersprüchlichen Forschungsergebnissen nachgehen will, die behaupten, dass Stammzellen, die genetisch nicht mit dem Empfänger übereinstimmen, vom Immunsystem nicht erkannt und deshalb auch nicht abgestoßen werden. Die Stichtagsregelung ist seit Bestehen immer wieder von verschiedenen Forschungsorganisationen kritisiert worden, vor allem weil jüngeren Stammzelllinien eine höhere Qualität und mit den alten Linien gewonnene Erkenntnisse nur eingeschränkte Aussagekraft haben sollen. Es ist jedoch eher nicht damit zu rechnen, dass sich das neue Parlament zu einer Novelle des Stammzellgesetzes entschließt. Zumal die Hausarbeiten, die die embryonale Stammzellforschung vor dem Schritt in die Klinik noch zu beantworten hat, auch mit Hilfe embryonaler Stammzellen der Maus abgearbeitet werden können. Das ist in Deutschland nicht verboten.
Sascha Karberg ist Biologe und Wissenschaftsjournalist in der "Schnittstelle" in Berlin.