Karin Meyer, 36, wagte erst vor fünf Jahren, ihren Gynäkologen um Hilfe zu bitten - nach der Lektüre eines Artikels im "Spiegel" über Klaus Diedrich. Der Mediziner aus Lübeck hatte sich als erster seiner Zunft öffentlich dazu bekannt, ein Patientenpaar nach Belgien geschickt zu haben. Dort sollten die Eheleute das bekommen, was ihnen in Deutschland aufgrund des Embryonenschutzgesetzes verwehrt bleibt: eine Präimplantationsdiagnostik (PID) für das Kind, das sie sich so sehnlich wünschten.
Auch Karin Meyer wollte sicher sein, keinen Sohn auf die Welt zu bringen, bei dem ihr genetischer Defekt eine schwere Krankheit hervorrufen könnte. Denn sie ist Trägerin der seltenen Erbkrankheit Norri, die fast nur bei Jungen auftritt. Die möglichen Folgen: Erblindung, Taubheit oder auch eine geistige Behinderung. Mädchen können kaum an Norri erkranken, weil der Defekt auf dem weiblichen Geschlechtschromosom X rezessiv vererbt wird, also gar nicht in Erscheinung tritt, und das zweite X-Chromosom gesund bleibt. Die Studienrätin Meyer sagt, sie hätte schon vor der Anfrage bei ihrem Frauenarzt Informationen über PID gesammelt und eine Klinik dafür in London ausfindig gemacht, sei aber vor den Preisen zurückgeschreckt. Von ihrem Arzt, den sie zuvor nicht "in Gewissenskonflikte" bringen wollte, erhielt sie jetzt nicht nur die Adresse in Brüssel. Er telefonierte auch mit dem Kollegen und verabredete eine grenzüberschreitende Kooperation, um dem Paar Fahrten und Kosten zu ersparen. Denn er erklärte sich bereit, die Hormonbehandlung in seiner Bonner Praxis zu machen. Nur um eines bat er seine Patientin inständig: Sie und ihr Mann sollten keinem Menschen sagen, wer ihnen den Kontakt vermittelt hat. Der Arzt fürchtet, wie sein Lübecker Kollege, von Lebensschützern angezeigt zu werden.
Jedes Mal wenn die Zeit wieder reif war für eine "Superovulation", die das Absaugen mehrerer Eizellen ermöglicht, reiste das Ehepaar im Schnellzug Thalys nach Brüssel. Den sechsten und letzten Versuch unternahmen die Meyers im Oktober 2005: Vier Embryonen sollten "einwandfrei" gewesen sein, wurden deshalb alle in den Mutterleib transferiert, aber keiner nistete sich ein. Karin Meyer hat aufgegeben. Sie beschreibt die emotionale Achterbahn zwischen Hoffnung und Enttäuschung und den Stress, der sich auch auf die Beziehung zu ihrem Mann übertrug. "Am Ende", so sagt sie, "wusste ich gar nicht mehr, ob ich es war, die unbedingt ein Kind wollte. Schon nach dem fünften Versuch überkamen mich Zweifel, beim sechsten wusste ich: nie wieder."
Karin Meyer und ihr Ehemann gehören zu den schätzungsweise 400 bis 500 Paaren, die sich Kinder wünschen, aber Träger einer bekannten schweren Erbkrankheit sind. Wie viele von ihnen im Ausland Hilfe suchen, weiß niemand. Betroffene kämpfen seit dem Jahr 2000 über eine Initiative (www.entos-projekt.de) für eine Liberalisierung des Embryonenschutzgesetzes von 1990. Sie können nicht nachvollziehen, dass Embryonen ohne Test auf Erbkrankheiten in den Mutterleib übertragen werden müssen, Monate später aber aufgrund einer pränatalen Diagnose abgetrieben werden dürfen. Sie beteuern, keine Designer-Babys erzeugen zu wollen. Es gehe ihnen darum, "den großen Schmerz über tote Embryonen im Mutterleib, schwere und schwerste Behinderungen und großes jahrelanges Leid unserer Kinderwunschpaare präventiv zu vermeiden, wo es vermeidbar ist".
Den Doppelwunsch nach einem genetisch eigenen und zugleich gesunden Kind hält der Arzt Linus S. Geisler, früher Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestags zur modernen Medizin, für unerfüllbar: "Genetische Gesundheit an sich ist ein illusionärer Anspruch. Im Fall der Anwendung von PID bedeutet das allenfalls den weitgehenden Ausschluss einer Krankheit, für die nur ein Gen (und nicht mehrere Gene) verantwortlich ist." Das "perfekte Kind" kann es nach Meinung von Humangenetikern ohnehin nicht geben, da die meisten Erkrankungen oder Fehlbildungen Neugeborener nicht auf eine vorher diagnostizierbare Erbkrankheit zurückgehen.
Wer dennoch über den Baby-TÜV im Genlabor sein Wunschkind bekommen will, hat einen Weg mit vielen Hindernissen vor sich. In der Europäischen Gesellschaft für Fortpflanzungsmedizin (European Society of Human Reproduction and Embryology) hatten sich auf Initiative der britischen In-vitro-Pioniere Patrick Steptoe und Robert Edwards die Fruchtbarkeitsexperten Europas schon 1985 zusammengeschlossen. Die Gesellschaft hat aber bisher nur einmal Daten über die Erfolgsquote von PID veröffentlicht. Dazu wurden die Zahlen von 26 PID-Zentren in Europa, den USA und Australien aus den Jahren 1993 bis 2000 vorgelegt. In diesem Zeitraum hatten sich 886 Elternpaare für PID entschieden. Doch nur 123 Geburten, bei denen insgesamt 162 Babys auf die Welt kamen, wurden regis-triert. Die Erfolgsquote liegt also bei knapp 14 Prozent. Eine andere Zahl lässt den Stress der Eltern, die sich für diesen Weg entscheiden, noch deutlicher erahnen: Für jede Geburt mussten im Durchschnitt 74 Eizellen befruchtet und elf Embryonen in den Uterus transferiert werden.
Es ist davon auszugehen, dass die Nachfrage für PID in den letzten Jahren dennoch erheblich gestiegen ist, wenn man den Selbsthilfegruppen, Internet-Foren und auch der Werbung der PID-Zentren in mehr als zehn EU-Ländern und in Übersee glauben darf. Großbritannien, wo seit 1985 Embryonen in den ersten 14 Tagen nach der Zeugung zu Forschungszwecken benutzt werden können, wurde in Europa zum Dorado für die moderne Fortpflanzungsmedizin. Das breite Angebot der Privatkliniken, das vor allem zahlungskräftige Patientinnen aus aller Welt anlockt, will die britische Regierung noch erweitern. Bis zum 25. November 2005 konnten die Bürger per Brief oder E-mail darüber abstimmen, ob demnächst allein den Eltern die Entscheidung über das Geschlecht und die genetische Ausstattung ihrer Kinder überlassen bleiben soll.
Auch in Deutschland, wo die Präimplantationsdiagnostik verboten ist, konkurrieren etwa 400 Ärzte und Laborchefs zwischen Kiel und Kempten auf dem immer noch wachsenden Markt der Fortpflanzungsmedizin. Mit dem Einsatz von PID könnten sie ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre Gewinne steigern. So würde ein serienmäßiger Embryo-Test den Kliniken bei den 45.000 künstlichen Befruchtungsversuchen pro Jahr eine lukrative Einnahmequelle sichern. Gleichzeitig könnten die deutschen Kliniken neue Kundenkreise erschließen, denn die Fortpflanzungsmediziner hoffen, über PID die Zahl der Geburten in ihren Zentren um mindestens 50 Prozent steigern zu können. Durch die diagnostische Methode könnten jene Embryonen frühzeitig aussortiert werden, die aufgrund von Chromosomenstörungen häufig schon in der Frühschwangerschaft vom Körper der Mutter abgestoßen werden. Wenn alle im Reagenzglas gezeugten Embryonen getestet werden und nicht nur die, die von Eltern mit schweren Erbkrankheiten stammen, würden sich außerdem fast automatisch Erfolgsquote und Akzeptanz von PID erhöhen.
Da Paare sich immer später für ein Kind entscheiden und deshalb oft die Hilfe der Reproduktionsmediziner suchen, scheint die durch PID erhoffte Effizienz den Babymachern eine Klientel zu bescheren, die solche Extraleistungen gern honoriert. Die typische Patientin hat der Essener Fertilitätsspezialist Thomas Katzorke so beschrieben: Akademikerin, Anfang 40, hat in ihrem Beruf alles erreicht und will ihrem zehn Jahre älteren und im Stress seiner Karriere leicht erschlafften Zweit- oder Drittpartner das späte Glück schenken - und ist bereit, viel dafür zu investieren.
Verfolgt man die Debatten der europäischen Gesellschaft für Fortpflanzungsmedizin, liegt die Zukunft der Babymacher eindeutig in den Möglichkeiten, über PID auch die Eigenschaften des Nachwuchses auszuwählen: Geschlecht, Haar- und Augenfarbe, Musikalität und was das Herz sonst noch begehrt. Das zeigen die Bekenntnisse der britischen Fertilitätsmediziner, die PID nicht länger nur für den Ausschluss von Erbkrankheiten nutzen möchten, sondern auch für die Auswahl genetisch bedingter Merkmale. Ihre deutschen Kollegen wollen noch nichts davon wissen, da mit solchen Optionen eine an enge Voraussetzungen geknüpfte Zulassung von PID in weite Ferne rückt.
Zu Werbezwecken hatte die Columbia TriStar 1997 für den nur mäßig spannenden Science-Fiction-Thriller "GATTACA" in Zeitungen eine Anzeige geschaltet: "Kinder zu bestellen". Zur Wahl standen ein paar Eigenschaften wie Aussehen und Begabungen (zum Beispiel Musikalität). Es hagelte Proteste gegen den Kinderhandel, aber gleichzeitig meldeten tausende von Paaren ihr Interesse an.
Marianne Quoirin arbeitet als Redakteurin beim "Kölner Stadt-Anzeiger".