Auf diese Rekorde hätte man an der Saar wahrlich gern verzichtet: Jüngst haben die zwei stärksten Grubenbeben, die je in Deutschland gemessen wurden, die Region Lebach mit ihren Kohlezechen und überdies weite Teile des gesamten Landes erschüttert. Wie schon bei mehr als 50 Erdstößen seit dem Frühjahr 2005 wackelten Wände an vielen Häusern, der Verputz bekam Risse, Dachziegel stürzten herab, Fliesen zerbarsten. Viele Bürger griffen zum Telefonhörer, um Polizei und Bürgermeisterämter zu alarmieren. "Die Menschen rufen an und heulen", erzählt Paul Brück, Ortsvorsteher des Lebacher Ortsteils Knorscheid. Brücks Kollege Günter Prediger aus Eidenborn: "Das Maß ist übervoll." Gangolf Hontheim, Ortsvorsteher in Falscheid, berichtet von "Panikattacken" bei manchen Leuten. Spontan protestierten Hunderte von Bewohnern vor dem Lebacher Rathaus. Gerhard Ziegler als Sprecher des Landesverbands der Bergbaubetroffenen will jetzt eine härtere Gangart bei den Demonstrationen einschlagen, um der Forderung nach einem Ende des Kohleabbaus mehr Nachdruck zu verleihen.
Seit einem Jahr haben die Bürgerinitiativen bereits häufig Demonstrationen organisiert, zuweilen marschiert man selbst vor den Privathäusern von Ministerpräsident Peter Müller, von Wirtschaftsminister Hanspeter Georgi (beide CDU) oder von Managern der Deutschen Steinkohle AG (DSK) auf. Die Rekordbeben markieren indes einen neuen Höhepunkt dieses Dauerkonflikts. Der Streit um die Kohle entpuppt sich zusehends als landespolitisches Topthema und setzt die CDU-Regierung wie SPD, Grüne und FDP gehörig unter Druck, die sich untereinander heftig befehden. Neuerdings schwappen die Auseinandersetzungen sogar bis nach Berlin. Beim Energiegipfel am 3. April im Kanzleramt wie bei den im Frühjahr startenden Verhandlungen über die Kohlesubventionen steht auch die Zukunft des "Schwarzen Goldes" an der Saar auf dem Spiel. Zudem strebt Müllers Kabinett über den Bundesrat eine Änderung des Bergrechts an, um die Interessen von Geschädigten aufzuwerten.
In den Medien Gehör verschaffen sich momentan vor allem jene Bürger, die wegen der Erschütterungen gegen den Bergbau zu Felde ziehen. Unterstützt werden diese Gruppen von den Grünen und der FDP, die ein rasches Ende der Kohleförderung verlangen. Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Hubert Ulrich fordert ein "Ausstiegsszenario mit einem definitiven Endzeitpunkt". Selbst der Bundesvorsitzende Reinhard Bütikofer ließ sich schon an der Saar blicken, um sich mit Bergbaubetroffenen zu solidarisieren.
Doch die Medaille hat noch eine andere Seite. Unter dem Dach der DSK beschäftigt das Bergwerk Saar als letzte verbliebene Zeche in dieser Region 7.000 Leute, ehedem waren es mal 60.000. In angegliederten Branchen hängen heute 5.000 weitere Arbeitsplätze von der Kohle ab. Nach den unter Rot-Grün getroffenen Vereinbarungen über die Reduzierung der Förderung und der Subventionen an Ruhr und Saar bis 2012 würden in der Grube im Südwesten statt derzeit 7.000 in sechs Jahren noch 4.500 Kumpel in Lohn und Brot stehen. Ein Aus für den Bergbau hält die Gewerkschaft für unverantwortlich. Für die DSK-Beschäftigten gebe es keine Ersatzarbeitsplätze, betont deren Bezirksleiter Dietmar Geuskens, "auch wenn das seitens der Politik immer wieder behauptet wird". Zwar verzeichnete das Saarland 2005 mit einem Plus von fast drei Prozent das republikweit stärkste Wirtschaftswachstum, was aber einen Rückgang der Zahl sozialversicherungspflichtiger Jobs nicht verhindert hat. Zudem können DSK und Gewerkschaft ins Feld führen, dass angesichts der Preissprünge bei Öl und Gas die Kohle als Energieträger wieder wichtiger werde.
Peter Müller sieht jedoch durch die Grubenbeben seine Auffassung bestätigt, dass zu einem "sozialverträglichen Auslaufbergbau keine Alternative" existiere. Der Ministerpräsident nennt freilich keinen konkreten Termin für ein Ende der Förderung, was ihm die Grünen ankreiden: Außer "Betroffenheitsrhetorik" bringe Müller nichts zustande, kritisiert Hubert Ulrich. Gleichwohl will sich Müller bei den Verhandlungen über die längerfristige Fortführung der Kohlebeihilfen, die rechtsverbindlich bislang nur bis 2008 gesichert sind, für einen Ausstieg aus dem Bergbau an der Saar und eine Umleitung der Subventionen in andere Bereiche der Wirtschaftsförderung stark machen - wobei indes offen ist, ob und in welchem Umfang Letzteres überhaupt möglich ist. Minister Georgi plädiert dafür, bei den Kohlegesprächen auch die saarländischen Bergbaugeschädigten mit einzubeziehen - was ein politisches Novum wäre.
Allerdings sitzt die SPD mit am Verhandlungstisch, und der Partner in der Großen Koalition will wie DSK und Gewerkschaft von einem Ausstieg aus der Kohle nichts wissen. Mit Blick auf den Energiegipfel am 3. April haben die SPD-Landtagsfraktionen aus dem Saarland und Nordrhein-Westfalen in einer Resolution den Erhalt des Bergbaus in Deutschland und die Errichtung neuer Kohlekraftwerke angemahnt. Das Treffen bei Kanzlerin Angela Merkel, an dem mehrere Bundesminister, die Chefs der großen Energiekonzerne, Gewerkschafter, Wissenschaftler sowie Klaus Töpfer, bis vor wenigen Tagen Chef des UN-Umweltprogramms, teilnehmen, läutet eine Grundsatzdebatte ein, die 2007 in ein energiepolitisches Gesamtkonzept münden soll.
Auch der Bundesrat wird sich mit dem Kohlestreit an der Saar befassen. Wirtschaftsminister Georgi plant eine Initiative in der Länderkammer zwecks Novellierung des Bergrechts, um den Belangen von Bergbaugeschädigten mehr Geltung zu verschaffen. Ein Abbaustopp bei einem Kohleflöz ist vor Gericht bisher erst bei konkreten Gefahren für Leib und Leben durchsetzbar. Indes räumt Georgi ein, dass eine solche Gesetzesänderung neben der Steinkohle sämtliche Rohstoffe wie etwa Öl, Gas, Kali oder Braunkohle beträfe: "Die Erfolgsaussichten einer Novellierung des Bergrechts lassen sich deshalb nur schwer abschätzen."