Die 222 Seiten sind der Versuch, Sichtbares und Unsichtbares in Worten erfahrbar zu machen, gewaltsam und ungefragt sich aufdrängende Begegnungen mit dem Tod zu verbalisieren, zu domestizieren, damit sie die Unfassbarkeit des eigenen Denkens nicht sprengen. "Militärische und literarische Aussagen über die Unfähigkeit, Afghanistan gewachsen zu sein", stellt der Autor fest: "Kapitulationen, wohin man blickt."
Unentrinnbarkeit allenthalben? Es scheint folgerichtig, dass eine deutsche Feder die Herausforderung annimmt. Schon lange gibt es diesen Widerspruch: die angeblich so alten und festen deutsch-afghanischen Beziehungen einerseits, aber wenige literarische Erkundungen fern journalistischer Ergüsse andererseits. Amerika oder Frankreich haben allein über den Widerstands-Helden Massud mehr Bücher produziert als in deutschen Buchläden ingesamt zum Thema Afghanistan im Regal stehen. Doris Lessings Reisebericht von 1986 ist eine Ausnahme. Sie kommt bei Willemsen nicht gut weg. Sein Vademecum ist Robert Byrons "Weg nach Oxiana". Der britische Autor beschritt in den 30er-Jahren, steinige und beschwerlicher Pfade, die "Afghanische Reise" folgt inzwischen immer wieder geteerten Straßen. Ein Ziel: der Oxus, von den Afghanen "amur darya" genannt. Der nördliche Grenzfluss, bei Byron als Mythos verfestigt, wird hier entweiht und beerdigt, was auch seiner veränderten strategischen Bedeutung entspricht: "Nichts ist schön hier", heißt es im Buch über einen "Unort" zwischen Schlickstreifen, rostigen Kran-Anlagen und umgeben von gelbgrüner Steppe: "Geh weg, sagt der Fluss, hier ist nichts, kehr um, löse dich auf."
Das würde Willemsen, man ahnt es, in anderen Situationen auch gerne tun. Es geht ihm wie den meisten westlichen Eindringlingen in diese Welt des "Unwirklichen": ständig voller Neugier unterwegs, gepaart mit ein wenig schlechtem Gewissen. "Wir sind Gewinner, die bloß passieren, Durchgangsmenschen, die in ihrem eigenen Element daherkommen, der Flüchtigkeit." Einige Begegnungen kennt man bereits aus der Zeitungslektüre - den Zoo von Kabul etwa oder die ersten fußballspielenden Frauen am Hindukusch. Andere Skizzen, wie die der Menschenrechtlerin Djamila, brechen unvermittelt ab. Tiefschürfend ist Willemsen, wenn er die eigene Kultur beim Reisen refektiert. Scham und Verschleiertsein trifft auf pornografische Freizügigkeit in westlicher Werbung und Film: "Der Umgang mit dem Nackten", schreibt er, sei "Hollywoods Burka".
Für die Entrechteten möchte Willemsen etwas tun, ihrem Befinden spürt er unablässig nach: Er plant einen Frauentag im Kino von Kunduz, eine Filmvorführung im verkümmerten Lichtspiel der Stadt soll anknüpfen an eine Zeit in den 60er- und 70er-Jahren, als in Afghanistan Frauen Minirock trugen - auf der Leinwand wie in der Wirklichkeit. Die Vorbereitungen dazu ziehen sich durch Teile des Buches, am Ende verfehlen er und seine Begleiter das ersehnte Ziel: Das Kino ist zwar voll, aber keine Frau unter den Zuschauern. "No woman!, ruft mir ein Mann zu, nicht gehässig aber triumphierend, so als sei er stolz auf die Frauen von Kunduz."
Politischer Analyst möchte Willemsen nicht sein, Chronist subjektiver Stimmungen dagegen schon. Mit dem "dünnen Eis des Friedens", den "kommenden Verteilungskämpfen" als Folge der Globalisierung verweist er auf Herausforderungen an die Zukunft des Landes, zu Ende gedacht werden sie nicht. Hier und da ist von neuer Normalität die Rede, häufig aber spürt der Autor den "Deformationen durch Elend" nach. Afghanistan scheint in diesem Buch erneut als Opferstaat durch, das "erwachende Land", wie der Klappentext verheißt, hätte mit dickeren Pinselstrichen gezeichnet sein können.
An der Bruchlinie, die aktuell zwischen Orient und Okzident verläuft, ergreift der Autor in gewisser Weise Partei: "Die Marktwerdung von allem, die Geringschätzung gegenüber all dem Immateriellen, das eine Kultur im Kern ausmacht. Der Ausverkauf der Tugenden, die der afghanischen Zivilisation auch außerhalb des Islams kostbar sind, ist fundamentalistisch auf seine Weise und provoziert eine fundamentalistische Antwort." Das ist keine Rechtfertigung für militante Akte, sondern bezeichnet den kulturellen Graben ziemlich genau.
Die "Afghanische Reise" endet mit der Begegnung eines Guantanamo-Häftlings und verweist auf Willemsens zweites Buch, das parallel erschienen ist. "Hier spricht Guantanamo": Gespräche mit fünf von inzwischen rund 270 entlassenen Häftlingen - zwei Russen, zwei Arabern, einem Afghanen. Allen konnte keine Schuld am "9/11" nachgewiesen werden. Sie sprechen über ihre Isolationshaft und Verhörtechniken, über Koranschändungen und Selbstmordversuche und über ihre Leben davor. Die Interviews verfolgen vor allem eine Absicht: den Opfern einer anonymen Haft ihre Würde zurückzugeben. Gerade weil ihre Aussagen betont sachlich bleiben, entsteht das Bild eines "Systems" von Lagern. Zu lesen ist, amerikanische Ärzte hätten an Häftlingen "geübt", womöglich sogar "experimentiert". Da tut sich in Gedanken ein Abgrund auf. Spürbar wird durch die Gespräche auch jene amerikanische Hybris, die sich aus einer Hanibal-Lecter ähnlichen Paranoia und einer kalt kalkulierten Verdrehung geltender Rechtsgrundlagen speist. Sollte Willemsens Prognose zutreffen, erleben wir den Beginn eines Jahrhunderts, in dem der mittelalterliche Begriff "vogelfrei" in der Gegenwart angekommen ist. Gerade weil es sich dort um eine größtmögliche Aushöhlung der Begriffe "Rechtsstaat" und "Freiheit" handelt, fragt man sich, warum es so ruhig zugeht, warum es zum Beispiel in Deutschland und anderswo nicht längst Montagsdemonstrationen zur Schließung des Gefängnisses gibt und - angesichts von Willemsens Vorwort zu den Interviews - wie weit die juristische Immunität eines amerikanischen Präsidenten und seiner Helfershelfer reicht.
Roger Willemsen
Afghanische Reise.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2006; 222 S., 16,90
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Roger Willemsen
Hier spricht Guantanamo.
Verlag Zweitausendundeins, Frankfurt/M. 2006; 237 S., 12,90
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