Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, wurde durch sein Engagement für Menschen in Krisenregionen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Er bereiste auch mehrmals die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete und kehrte voller Empörung über das Elend ihrer Bewohner zurück. Diese Eindrücke durchziehen Neudecks Buch "Ich will nicht mehr schweigen", das Israels Umgang mit den Palästinensern heftig kritisiert.
Exemplarisch dafür steht folgender Auszug: "Ich kann die Menschen nicht vergessen, die ich in der Altstadt von Hebron an uns habe vorüberhuschen sehen. Diesen Palästinensern geschieht in ihrer Stadt schlicht gesagt ein furchtbares Unrecht. Ich habe ihnen angesehen, was sie von mir erwarten: dass ich nicht nur ein blinder Tourist oder ein sensationslüsterner Reporter bin; dass ich ihre gerechte Sache vor das Forum der deutschen Öffentlichkeit bringe; dass ich berichte, was ich mit eigenen Augen gesehen habe: Hier werden Menschen in ihrer eigenen Stadt rassistisch behandelt und durch die zu Stein und Stacheldraht gewordene Architektur einer Siedlung mitten in der Stadt gedemütigt und entrechtetet."
Das hier zum Ausdruck kommende Mitgefühl Neudecks nimmt den Leser für seine Darstellung und Deutung ein. Beides geht aber auch mit einer pauschalen Kritik an Israel einher, wie folgender Satz exemplarisch veranschaulicht: "Israel ist nur noch ein Staat, der auf seine militärische Stärke und das enge Bündnis mit den USA setzt." Gleichwohl vertritt der Autor weder eine antijüdische noch eine antisemitische Position. Vielmehr argumentiert Neudeck aus der Perspektive einer Strömung im Judentum, die auf die Gründung eines binationalen Staates in Palästina setzte und in dem Religionsphilosophen Martin Buber ihren bekanntesten Repräsentanten hatte. An ihn richtet Neudeck auch fiktive Appelle und Briefe, die an dessen ausgleichende und gewaltfreie Perspektive erinnern und für einen anderen Weg der israelischen Politik plädieren. Darüber hinaus formuliert Neudeck auch scharfe Kritik am Opportunismus in Deutschland, werde doch aus Angst vor Antisemitismus-Vorwürfen auf eine kritische Auseinandersetzung mit Israel verzichtet. Insbesondere der Vorwort-Autor Norbert Blüm und der Verleger Abraham Melzer verstärken solche Aussagen noch in ihren Texten.
Das Urteil über Neudecks Buch fällt ambivalent aus: Während es notwendig und wichtig ist, das Leiden der Palästinenser hervorzuheben, geschieht dies doch auf eine nicht unproblematische Art und Weise. Hierzu gehört der mitunter doch sehr verstörende emotional-pathetische Darstellungsstil ebenso wie das Fehlen einer systematischen Analyse zu Gründen und Folgewirkungen des Palästina-Konflikts. Das Buch liefert eher eine Aneinanderreihung einzelner Berichte und Reflexionen.
Inhaltlich springt Neudeck in Bezügen und Zeit häufig hin und her. Darüber hinaus ignoriert er in seiner Betrachtung die legitimen israelischen Sicherheitsinteressen. Sie können nicht einfach durch die kurze Kommentierung "Und gemeint ist nur die ,security' der Israelis, nicht die der Palästinenser" zur Seite geschoben werden. Die nachvollziehbare Empörung über das Leben und Leiden der Palästinenser scheint den Autor mitunter blind für den gesellschaftlichen und politischen Kontext gemacht und ihn zu einseitigen und stereotypen Pauschalisierungen hingerissen zu haben. Möglicherweise hat er seinem eigentlich anerkennenswerten aufklärerischen Anliegen damit einen schlechten Dienst erwiesen.
Rupert Neudeck
Ich will nicht mehr schweigen.
Über Recht und Gerechtigkeit in Palästina.
Vorwort von Norbert Blüm.
Melzer-Verlag, Neu-Isenburg 2005; 304 S., 19,95 Euro