Aus Originalquellen, die auch der IAEO zugänglich gewesen seien, gehe hervor, dass von den 600.000 bis eine Million Aufräumarbeitern, die nach dem Unglück vom 26. April 1986 eingesetzt wurden, 90 Prozent schwer erkrankt seien. Dabei handele es sich nicht nur um Krebserkrankungen, sondern auch um hirnorganische Erkrankungen, Schädigungen der Sinnesorgane, der Atemwege und Verdauungsorgane sowie psychische Krankheiten.
Müller hingegen war der Ansicht, man müsse die Strahleneffekte von anderen Faktoren trennen. Es sei insbesondere in den hoch belasteten Gebieten zu einem Anstieg der Schilddrüsentumore und Leukämie-erkrankungen gekommen. Man müsse jedoch in Rechnung stellen, dass es zu einem Teil der Erkrankungen auch ohne das Reaktorunglück gekommen wäre.
Zudem hätten Faktoren wie das desolate Gesundheitssystem im Land, Alkoholismus und Selbstmorde eine Rolle gespielt, sagte Müller. Man dürfe den Menschen in der betroffenen Region nicht immer wieder sagen, sie seien so verstrahlt, dass es keine Hoffnung gebe - vielmehr müsse man ihnen Hoffnung machen.
Diese Einschätzung wurde von Melissa Flemming geteilt. Sie betonte, man habe für die Region um Tschernobyl auch im Bereich der Umwelt wieder "annehmbare Werte" und müsse im Umgang mit den betroffenen Menschen "umdenken". "Armut, Lifestyle-Krankheiten und psychische Krankheiten" stellten "größere Probleme als die Verstrahlung" dar. Nötig seien heute in erster Linie Konzepte für die Lagerung des hoch verstrahlten Abfalls. Auch müsse die instabile Schutzhülle des Reaktors erneuert werden.
Der deutsche Botschafter in Kiew, Dietmar Gerhard Stüdemann, machte darauf aufmerksam, dass es nicht allein um Zahlen gehe - diese seien immer wieder Gegenstand von Manipulationen. Zudem gebe es anders als in Deutschland in der Ukraine nach wie vor keine öffentliche Diskussion über die Auswirkungen des Reaktorunglücks. Die Menschen hätten zwar eine "Überlebensstrategie" entwickelt, so der Botschafter, sie wüssten aber nach wie vor nicht, "wie es weiter geht". Dass bereits seit einiger Zeit wieder Menschen in der 30-Kilometer-Sperrzone um Tschernobyl leben, sei ein "Zeichen der Verzweiflung". Auch Wolfgang Faust, Wirtschaftsattaché der Deutschen Botschaft in Minsk, warnte davor, sich von Statistiken blenden zu lassen, denn damit reduziere man in unzulässiger Weise "menschliche Einzelschicksale auf Druckerschwärze und Zahlen". Das Problem sei "noch längst nicht bewältigt". Im Zentrum Europas befinde sich ein riesiges entsiedeltes Gebiet, das wirtschaftlich nicht nutzbar sei. Insbesondere Weißrussland und die Ukraine könnten die finanziellen Aufwendungen, die nötig seien, nicht aufbringen. Daher sei die humanitäre Hilfe, die allein aus Deutschland jährlich 20 Millionen Euro umfasse, weiterhin dringend nötig. Faust betonte eindringlich, Technik sei "niemals sicher" - daher müssten für die Energieversorgung "andere Konzepte als Kernkraft" gefunden werden.
Auch Dietrich von Bodelschwingh, Vertreter des gemeinnützigen Vereins "Heimstatt Tschernobyl", und Angelika Claußen appellierten an die Abgeordneten, sich gegen die weitere Nutzung von Atomenergie einzusetzen. Liesel Hartenstein (SPD), zur Zeit des Reaktorunglücks stellvertretende Vorsitzende des Umweltausschusses, gab zu bedenken, es sei "gespenstisch", wie auch 20 Jahre nach der Katastrophe dieselben Argumente hin und her gewendet würden - man "trete auf der Stelle".
Experten für Reaktorsicherheit betonten, man habe in Deutschland einen hohen Sicherheitsstandard. Kurt Kugeler, Professor für Reaktorsicherheit in Aachen, sagte, die Entwicklung einer "ausgeprägten Sicherheitskultur" sei eine internationale Aufgabe, in die "alle Fortschritte implementiert" werden müssten. Umweltforscher Klaus Traube, selbst ehemaliger "Atomkraftmanager", warnte vor zu großer Sorglosigkeit: Leichtsinn, Unfälle und menschliches Versagen gebe es überall. Doch weil die Atomkraftanlagen mit einem "hohen Grad an Sicherheit" ausgestattet seien, rechne niemand damit. Dies sei ein Fehler.