Wer den Oscar-nominierten Film "Hotel Ruanda" von Keir Pearson und Terry George gesehen hat, wird die darin dokumentierten Gräueltaten nie vergessen können. Zu sehen ist, was 1994 in Ruanda geschah, als eine halbe Million Tutsi und tutsifreundliche Hutu von aufgehetzten Mörderbanden innerhalb von 76 Tagen bestialisch niedergemetzelt wurden und wie der Direktor des Hotels "Mille Collines" in Kigali 1.268 Flüchtlinge vor dem Abschlachten bewahrte. Der Film beruhte im Wesentlichen auf einem Interview, das Paul Rusesabagina, der besagte Hoteldirektor, Keir Pearson 1999 gegeben hatte. Jahre später schreibt Paul Rusesabagina die damaligen Ereignisse ausführlich nieder. Entstanden ist ein Dokument, das sehr genau über die Hintergründe und Ablauf des Völkermords informiert.
Ausgangspunkt der Katastrophe, wie Rusesabagina berichtet, ist die rassistische Theorie des Briten J. H. Speke Mitte des 19. Jahrhunderts, nach der die Tutsi angeblich edlen Geblüts und ein Herrenvolk sind, die "kraushaarigen, plattnasigen, wulstlippigen" Hutu dagegen niedere Gefolgsleute, ein "Volk von Knechten". Als Ruanda nach dem Ersten Weltkrieg an Belgien fällt, übernehmen die neuen Kolonialherren die absurde Rassentheorie. Die Tutsi erhalten begrenzte Machtbefugnisse, werden zu Aufsehern und Unterdrückern der Hutu. Nach Ende der Kolonialzeit gewinnen die Hutu die nationalen Wahlen und erobern 90 Prozent der Parlamentssitze. In allen Ausweisen wird die ethnische Zugehörigkeit eingetragen. Eine Viertelmillion Tutsi verlässt das Land. Bereits 1963 kommt es zu ers- ten Gewalttaten, die bis 1972 andauern.
Der Genozid von 1994 ist von der Hutu-Regierung planmäßig vorbereitet. Todesschwadronen werden ausgebildet, Waffenlager angelegt und offen gegen die "Kakerlaken" gehetzt. Aufforderungen im Radio wie "Säubert eure Nachbarschaft vom Gestrüpp" sind unmissverständliche Anspielungen, die den Tutsi gelten. Ausgelöst hat das Massaker der Absturz der Präsidentenmaschine. Innerhalb weniger Stunden mutieren gelehrige Hutu zu Bestien, die über ihre Tutsi-Nachbarn herfallen. "Wer sich als Tutsi erwies, wurde beiseite gezerrt und mit Macheten zerhackt. (...) Ärzte wurden aus ihren Häusern gezerrt und durch Kopfschüsse getötet. Älteren Frauen schnitt man die Kehle durch. Schulkindern schlug man mit Holzbrettern auf den Kopf oder zerquetschte ihre Schädel auf dem Betonboden mit Stiefelabsätzen. Die älteren Kinder wurden in Abortgruben geworfen und mit Steinlawinen zugeschüttet."
Rusesabagina, selbst Hutu und, da mit einer Tutsi verheiratet, auch Todeskandidat, sieht es in diesem Inferno als selbstverständlich an, Gäste und Flüchtlinge zu beschützen. Jeder Ankömmling wird aufgenommen, obwohl das Hotel völlig überbelegt ist und bis zu 40 Personen in einem Zimmer schlafen müssen. Es fehlt an Trinkwasser und Lebensmitteln. Rusesabagina kennt etliche der marodierenden Anführer von früher, bietet ihnen Geld, setzt sich mit den Mördern an einen Tisch, animiert zum Trinken, macht kleine Geschenke, redet und argumentiert. So gelingt es, mehrfach in letzter Minute, die Erstürmung des Hotels zu verhindern.
So entsetzlich die geschilderten Abläufe des Völkermords, so beeindruckend andererseits der Mut und die Zivilcourage dieses Hoteldirektors. Deprimierend hingegen das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft: Die 2.500 in Ruanda stationierten UN-Blauhelme werden angewiesen, sich auf die Evakuierung der Ausländer zu beschränken, und verlassen bis auf 500 Mann das Land.
Nach dem Ende des Völkermords kommen wieder die Tutsi an der Macht. In der neuen Regierung befinden sich zahlreiche Personen, die, in die blutigen Geschehnisse verstrickt, überlebende Zeugen fürchten müssen. Nach einem missglückten Anschlag auf Rusesabagina verlässt er mit seiner Familie Ruanda. Heute lebt er in Belgien. Die Klassifizierung in Hutu und Tutsi ist inzwischen zwar abgeschafft. Die derzeit amtierende Tutsi-Elite baut ihre Privilegien aus, nur wenigen Hutu gelingt der Aufstieg in höhere Positionen. "Wir haben", wie Rusesabagina feststellt, "die Tänzer ausgetauscht, die Musik ist gleich geblieben."
Paul Rusesabagina: Ein gewöhnlicher Mensch. Die wahre Geschichte hinter "Hotel Ruanda". Berlin Verlag, Berlin 2006; 253 S., 18 Euro.