Nur vier kamen durch. Neun Monate war es an der Grenze von Melilla ruhig geblieben, dann setzten am frühen Morgen des 3. Juli einige Dutzend Schwarzafrikaner zum Sprung über den Zaun an. Sofort waren marokkanische und spanische Sicherheitskräfte zur Stelle, zerrten die selbstgezimmerten Leitern fort und schossen zum Schrecken der Flüchtlinge in die Luft. Das ist die offizielle Version. Aber drei Männer starben. Zwei auf marokkanischer Seite. Der dritte fiel beim Überklettern des sechs Meter hohen Zauns auf die spanische Seite. Ein Schuss in den Rücken hatte ihn getötet. Spanische Ballistiker berichteten am nächsten Tag, dass die Kugel von marokkanischer Seite abgefeuert worden sei. Nur vier Männer aus Kamerun und Burkina Faso schafften es an diesem Morgen lebend nach Melilla.
Ungefähr zur selben Uhrzeit fanden marokkanische Gendarmen an einem Küstenabschnitt der marokkanisch besetzten Westsahara die Leichen von 21 Schwarzafrikanern. Sieben Überlebende konnten erzählen, was geschehen war: Sie waren ein paar Stunden zuvor in einem kleinen Holzboot Richtung Fuerteventura aufgebrochen. Nach kurzer Fahrt kenterten sie, das Boot war mit 37 Leuten überbesetzt gewesen. In den folgenden Tagen schwemmte das Meer die Leichen der Vermissten an. 3. Juli 2006. Fast ein Tag wie jeder andere.
Tausende Afrikaner sind unterwegs nach Europa. Wird ihnen ein Weg versperrt, versuchen sie es auf einem anderen. Spanien liegt vor der Haustür. Erst benutzten die afrikanischen Migranten die Route von Marokko über die Straße von Gibraltar nach Andalusien auf dem spanischen Festland. Im Sommer 2002 begann die spanische Regierung, mit EU-Hilfe ein "Integriertes System der Außenüberwachung (SIVE) an der andalusischen Küste zu installieren, das Flüchtlingsboote frühzeitig erkennen und abfangen sollte. Eine Antwort auch auf die steigende Zahl von Toten, die jedes Jahr an der Straße von Gibraltar zu beklagen war.
Das SIVE erwies sich als Erfolg. Die Zahl der Boote, die Zahl der Flüchtlinge und vor allem die Zahl der Toten sanken beträchtlich. Stattdessen wichen immer mehr Afrikaner auf eine neue Route aus: von Marokko oder der Westsahara nach Fuerteventura, der nächstgelegenen kanarischen Insel. Das ist der Weg, den das gekenterte Boot mit den 37 Männern und Frauen am 3. Juli nehmen wollte. Ein Weg, den heute nur noch wenige einschlagen, denn die marokkanische Regierung kontrolliert ihre Küsten immer besser. Seit den Massenanstürmen auf die Zäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla im Herbst vergangenen Jahres ist die marokkanische Politik gegen die schwarzafrikanischen Migranten noch härter geworden. Doch die Menschen lassen sich nicht abhalten. Anfang des Jahres landeten die ersten Flüchtlingsboote auf Teneriffa und Gran Canaria, die von Nouâdibou im Norden Mauretaniens gestartet waren. Seit April kommen die Boote von noch weiter her, aus dem Senegal. Im ersten Halbjahr erreichten rund 10.500 Schwarzafrikaner die Küsten der Kanarischen Inseln, mehr als im gesamten Jahr 2002, dem bisherigen Spitzenjahr.
Noch nie in seiner jüngeren Geschichte hat Spanien solche Anziehungskraft auf Migranten ausgeübt. Noch bis 1993 wanderten mehr Menschen aus Spanien aus als nach Spanien ein. 1995 lebten eine halbe Million Ausländer legal in Spanien, 2001 erstmals mehr als eine Million, 2004 knapp zwei Millionen, Ende 2005 fast 2,75 Millionen. Kein anderes EU-Land hat im vergangenen Jahr so viele Immigranten aufgenommen wie Spanien. Etwa 6,25 Prozent der Bevölkerung sind heute legal hier lebende Ausländer. Während sich die Spanier auf der Straße an das Zusammenleben mit den Immigranten gewöhnten, schien die Politik nicht zu wissen, wie ihr geschah. Der offizielle Diskurs versprach eine "geregelte Einwanderung", doch in Wirklichkeit kamen immer mehr Ausländer ins Land, ohne erst um Erlaubnis zu bitten. Daran änderten auch das SIVE oder die Zäune von Ceuta und Melilla nichts. Die meisten Immigranten, die heute in Spanien leben, sind irgendwann ganz legal eingereist, etwa die Hälfte von ihnen mit Touristenvisum, und beschlossen, auch ohne Aufenthaltsgenehmigung im Land zu bleiben. Doch weder die konservative Aznar-Regierung (1996 bis 2004) noch die jetzige sozialistische Zapatero-Regierung rangen sich zu groß angelegten Abschiebeaktionen durch, auch wenn das nach dem 2001 in Kraft getretenen Ausländergesetz möglich wäre. Er wolle keine "Jagd auf die Immigranten", versicherte der konservative Innenminister Jaime Mayor Oreja. Bei dieser Philosophie ist es geblieben. Wer es einmal nach Spanien schafft, hat große Chancen, hier seine neue Heimat zu finden.
Wie im Rest Europas machen die Einwanderer die Arbeit, die den Einheimischen zu beschwerlich und zu schlecht bezahlt ist. Sie schuften unter den Plastikplanen der Obst- und Gemüseplantagen, auf den Hunderttausenden von Baustellen, in Hotels und Restaurants, als Haus- und Kindermädchen. Ein Ausländer ohne Papiere ist manchem Arbeitgeber doppelt recht: Er schuftet, ohne sich zu beschweren. Die Zapatero-Regierung nahm sich des Problems im vergangenen Jahr an. Sie bot den Immigranten eine "Sonderregularisierung" an. Schon unter Aznar hatten Hunderttausende Ausländer in mehreren Schüben Papiere erhalten, wenn sie nachweisen konnten, dass sie bereits seit einigen Monaten im Land lebten. Doch Zapatero bürdete die Antragspflicht nicht den Immigranten auf, sondern den Arbeitgebern, die sie illegal beschäftigten. Zwischen Februar und Mai 2005 gingen beim zuständigen Arbeitsministerium mehr als 690.000 Anträge auf "Sonderregularisierung" ein, knapp 600.000 davon wurden schließlich positiv beschieden.
Von den anerkannten Immigranten schrieben sich bis Ende Februar knapp 480.000 in der staatlichen Sozialversicherung ein. Insgesamt mehr als 1,7 Millionen Ausländer, 9,4 Prozent aller Beitragszahler, sind Mitglied der spanischen Sozialkasse. Trotzdem finden mittlerweile 69 Prozent der Spanier nach einer jüngsten Umfrage der regierungskritischen Tageszeitung "El Mundo", dass in ihrem Land "übermäßig viele" Immigranten leben. Die "Sonderregularisierung" habe für einen "Sogeffekt" gesorgt, sagten mehr als 70 Prozent der Befragten. Die Angst vor Ausländern ist ein neues Phänomen. Frühere Studien zeigten, dass die Spanier ihren neuen Mitbewohnern vergleichsweise tolerant und offen gegenüber standen. Ernstliche Sorgen machen sie sich allerdings von jeher darüber, dass Ausländer in der Kriminalitätsstatistik überrepräsentiert sind. Noch haben sich in Spanien keine Gettos gebildet. In Madrids berühmtem Altstadtviertel Lavapiés mit einem geschätzten Ausländeranteil von 40 Prozent leben so viele Nationalitäten zusammen, dass sich auch hier keine abgeschlossene Immigrantengemeinde gebildet hat. Eine dramatische Ausnahme ereignete sich vor sechs Jahren im andalusischen El Ejido. Nach drei Mordfällen veranstalteten Einheimische eine Hatz auf marokkanische Plantagenarbeiter.
Marokkaner bilden die größte Ausländergruppe in Spanien, gut 490.000 von ihnen leben legal im Land. Seit den Attentaten vom 11. September 2001 sind sie die am wenigsten geschätzte Nationalität, das Misstrauen ist seit den Madrider Anschlägen vom 11. März 2004 noch gewachsen. Doch abgesehen von El Ejido hat es keine weiteren Ausbrüche von anti-marokkanischem Fremdenhass gegeben. Die Marokkaner sind umgekehrt die Ausländer, die sich am schwersten mit ihrer neuen Heimat tun: 20 Prozent von ihnen sähe es nicht gern, wenn ihre Tochter einen Spanier heiratete. Ansonsten ist die kulturelle Barriere zwischen Ausländern und Einheimischen vergleichsweise niedrig: Fast eine Million der Immigranten stammt aus Lateinamerika (vor allem Ecuadorianer, Kolumbianer, Peruaner und Argentinier), gut 900.000 sind Europäer (vor allem Rumänen, Briten, Italiener und Deutsche).
In Zukunft aber dürften mehr und mehr Afrikaner an die Tore Spaniens und Europas klopfen. Weil die europäische Visapolitk mit ihnen besonders restriktiv ist, nehmen die Schwarzafrikaner die größten Gefahren auf dem Weg nach Spanien in Kauf. Sie rütteln, unter Lebensgefahr, an den Zäunen von Ceuta und Melilla, oder riskieren ihr Leben auf der Überfahrt zu den Kanarischen Inseln. Solange Europa ihnen nicht die Chance gibt, den gelobten Kontinent ganz legal zu erreichen, werden sie weiter ihr Leben aufs Spiel setzen.