Das Parlament Herr Nagarkar, es gibt einen Ausspruch, den man immer wieder hört, wenn man Inder nach ihrem Land fragt: "Egal, was man über Indien behauptet, das Gegenteil ist genauso wahr." Können wir im Westen den "Kosmos Indien" überhaupt begreifen?
Kiran Nagarkar Vieles in Indien verblüfft auch mich vollkommen. Der Subkontinent ist komplex, und es stimmt: In Indien scheint jeder denkbare Widerspruch möglich. Das Land besteht ja eigentlich aus mindestens 22 Ländern, die man vereint hat, von denen jedes seine eigene Sprache hat, seine eigene Küche und so weiter.
Das Parlament An welche Widersprüche denken Sie?
Kiran Nagarkar Einige der reichsten Menschen der Welt sind Inder, gleichzeitig sind wir ein entsetzlich armes Land, in dem Menschen noch immer verhungern und Kinder an Unterernährung sterben. Wir machen uns einen Namen in der Welt der Informationstechnologien, in Industrie und Forschung, und gleichzeitig sind wir außerordentlich abergläubisch und halten am offiziell längst abgeschafften System der Kasten fest.
Das Parlament Wie passt das alles zusammen?
Kiran Nagarkar Wir sind ein Land mit relativ langer Geschichte und Tradition. Seit mindestens 3.000 Jahren, seit der Ankunft der ersten größeren Einwanderergruppen wie der Arier, später der Moslems und dann der Briten haben wir häufig sehr fremde Kulturen, Lebens- und Denkweisen aufgenommen. Wundert es da, dass wir in einem Moment das Eine und im nächsten Moment fast das Gegenteil davon sind? Man geht darüber hinaus meist davon aus, dass der Eroberer und Kolonialherr die Regeln des Spiels aufstellt. Aber Sie werden erstaunt sein festzustellen, wie subtil und stark diejenigen, die unterdrückt wurden, auch den Eroberer beeinflussen können. Viele unserer Götter stammen von den frühesten Bewohnern Indiens, unsere Kunst verdankt den Moslems viel, und unser Ethos ist stark von den Briten beeinflusst.
Das Parlament In Europa stehen wir vor großen Herausforderungen, die um Begriffe wie Integration, Rassismus und Multikulturalismus kreisen. Wie multikulturell ist Indien heute?
Kiran Nagarkar Ich bin immer schnell dabei, schlimme Dinge über Indien zu sagen. Aber in Wahrheit ist der Multikulturalismus das zentrale Leitmotiv Indiens schon seit der Zeit, in der sich moslemische Eindringlinge im Land niederließen und ihre Kultur tief verwurzelten. Natürlich gab es anfangs eine Feindschaft zwischen Hindus und Moslems. Doch, und das ist eine der großen Besonderheiten, Indien ist wie ein Schwamm. Es nimmt verschiedene Kulturen auf, absorbiert sie und macht sie sich zu Eigen. In Kerala lebten Christen fast seit der Zeit der Apostel. Die Zoroastrier wurden in Indien im zehnten Jahrhundert freundlich aufgenommen, genauso wie später die Portugiesen und die Briten.
Das Parlament Welche Rolle spielte dabei die britische Kolonialmacht?
Kiran Nagarkar "Teile und herrsche" war das Geschenk der Briten für uns. Um ihre eigene Position zu sichern, spielten sie eine Gemeinschaft gegen die andere und eine Kaste gegen die andere aus. Dies ist ein Erbe, das unsere Politiker heute maßlos ausnutzen. Ihnen geht es nur darum, Wählerstimmen innerhalb bestimmter Religionen und Kasten zu gewinnen. Dies hat dem Land verheerenden Schaden zugefügt. Aber trotzdem kann ich nur sagen, dass die Mehrheit der Inder recht gut mit anderen Gemeinschaften zusammenlebt - dabei möchte ich nicht die fürchterlichen Folgen der "Unberührbarkeit" oder die Folgen der fanatischen Feuer, die von religiösen und politischen Anführern angefacht werden, herunterspielen.
Das Parlament Sie sind stark kritisiert worden, als sie schon vor einigen Jahren beschlossen, auf Englisch zu publizieren, nachdem Sie jahrelang in Marathi, der Sprache Ihres Heimatstaats Maharashtra, geschrieben hatten. Auch wenn Englisch inzwischen die einzige gemeinsame Sprache Indiens ist, so wird doch sein Status noch immer in Frage gestellt. Warum ist das so, auch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit?
Kiran Nagarkar Englisch ist die Sprache der Kolonialherren und zugleich praktisch die einzige gemeinsame Sprache aller unserer Staaten. Das Problem ist heute leider nicht das Englische, sondern die Tatsache, dass die meisten wohlhabenden Inder und die Mittelschicht, ja sogar die Armen, was die Erziehung ihrer Kinder betrifft, ihre Muttersprachen für das Englische aufgeben wollen. Dies ist verständlich, denn wie ich schon in meinem Roman "Ravan & Eddie" erläutere, haben diejenigen, die Englisch können, viel, und diejenigen, die es nicht können, nichts. Wir haben aufgrund der geschichtlichen Umstände Englisch den Vorrang gegeben, obwohl allen unseren Sprachen die gleiche Bedeutung hätte zukommen sollen. In der Schweiz lernen viele Kinder problemlos vier Sprachen. In Indien mögen wir die Liebe zu unseren eigenen Sprachen zwar lautstark bekunden, doch sind wir an jeder anderen Sprache, abgesehen von unserer eigenen und dem Englischen, völlig desinteressiert.
Das Parlament Was bedeutet es heute, bei dieser einzigartigen Mischung, "indisch" zu sein?
Kiran Nagarkar "Die Idee von Indien" ist, wie Sunil Khilnani es in seinem gleichnamigen Buch erläutert, in Wirklichkeit eine Erfindung von Nehru - dies ist eine Übertreibung, aber sie enthält mehr als ein Körnchen Wahrheit. Indien bestand über hunderte von Jahren hinweg aus Königreichen und Fürstentümern. Die Ankunft der Briten, die auf einer Handelsmission waren, und auch der Zufall waren es, die das Land zwangen, sich zu einem Konglomerat zusammenzuschließen. Das Konzept der Nation ist für Indien recht jung. Die Demokratie ist eine noch spätere Entdeckung für uns gewesen. Weitgehend hat uns Nehru selbst diese Begriffe vorgegeben und uns an diese Ideen glauben lassen.
Das Parlament Welche Rolle spielt die Idee der Gewaltlosigkeit?
Kiran Nagarkar Kein anderes Land, das unter Kolonialherrschaft stand, hat seine Freiheit in der Weise errungen wie Indien. Die Gewaltlosigkeit ist in erster Linie ein Konzept des Buddhismus und des Jainismus ...
Das Parlament ... eine asketische Religion Indiens, die im sechsten Jahrhundert vor Christus entstanden ist. Sie verkündet Unsterblichkeit und leugnet die Existenz eines perfekten oder höchsten Wesens...
Kiran Nagarkar ...jedoch war es Gandhi, der die Gewaltlosigkeit auf einmal zu einem einschlägigen Konzept und einer unglaublichen Waffe im Kampf um die Unabhängigkeit machte. Wie die meisten Völker der Erde sind zwar auch wir ein gewaltsames Volk. Aber etwa 40 Jahre lang, zwischen 1910 und 1947, ließ uns Gandhi glauben, wir könnten zumindest zeitweise eine Selbstkontrolle ausüben und mit gewaltlosen Mitteln um unsere Freiheit kämpfen. All dies bei schwerer physischer Unterdrückung und Bestrafung durch die Briten.
Das Parlament Wie schaut man in Indien heute auf diese Hinterlassenschaft Gandhis?
Kiran Nagarkar Gandhis aggressives Streben nach Gewaltlosigkeit und "Satyagraha", also die Beharrlichkeit und das hartnäckige Streben nach der Wahrheit als ultimativer Waffe, sind ein merkwürdiges Erbe gewesen. Gandhi brachte die gesamte Nation zum Stillstand, aber nie aus Eigennutz oder Eigeninteresse. Natürlich haben ihn die Briten ins Gefängnis gesteckt, doch Gandhi konnte sehr stur sein. Das Wunderbare bei ihm war, dass er Fehler zugeben und "Hartals" (das Stoppen aller Tätigkeiten im Land) abbrechen konnte, wenn es auch nur die geringsten Anzeichen der Gewalt gab - und dies sogar auf die Gefahr hin, dass die Massen sich von ihm abwenden würden. Heute bekennen wir uns zwar dazu, unsere historischen Personen wie Schivaji oder Gandhi zu ehren, doch wir lieben sie nicht. Wir legen einmal im Jahr an ihrem Geburtstag ein Lippenbekenntnis ab, sind jedoch nicht im Geringsten an ihnen interessiert. Wir scheren uns, ehrlich gesagt, einen Dreck um unser großes politisches Erbe - außer als politische Waffe der Einschüchterung. Heute bringt jede fundamentalistische Partei das Land für ihre eigenen höchst zweifelhaften Zwecke zum Stillstand, und die bevorzugte Waffe der Einschüchterung ist die Gewalt.
Das Parlament Indien ist auch Opfer von Terrorismus.
Kiran Nagarkar Seit 20 bis 25 Jahren. Das zum einen aufgrund von religiösem Extremismus, zum anderen aufgrund der tatsächlichen Probleme an Orten wie Kaschmir, wo durch die Politik und die fehlende Berücksichtigung der Bedürfnisse der dortigen Menschen Konflikte noch verstärkt werden. In Bombay beispielsweise gab es schon vor den Anschlägen im Juli sowohl im Jahre 1993 als auch 2004 koordinierte Bombenanschläge mit hunderten von Toten im Stadtzentrum. Durchschnittlich sterben zwischen fünf und zehn Menschen pro Tag bei verschiedenen terroristischen Anschlägen, von denen einige auch marxistischer Prägung sind.
Das Parlament Sie haben ihren letzten Roman vor neun Jahren, lange vor dem 11. September 2001 begonnen. Wie kamen Sie auf die Idee für die Hauptperson Zia Khan, einen Extremisten und "Gottes kleinen Krieger"?
Kiran Nagarkar Als ich mit "Gottes kleiner Krieger" begann, wusste ich vom ersten Moment, dass ich es mit einem sehr schwierigen Charakter zu tun hatte, einem Extremisten, der den meisten Lesern sehr fremd sein würde. Anders als das Stereotyp des Durchschnittsfanatikers, der in Madrasas (Islam-Schulen, Anm. d. Redaktion) herangezogen wird, wollte ich, dass er ein Vertreter der Kategorie der extrem intelligenten und engagierten Extremisten ist. Das Erstaunliche bei Zia ist, dass seine Religion weder der Islam, das Christentum, der Hinduismus noch irgendeine andere Religion ist. Seine Religion ist der Extremismus. In dem Buch schreibt er einen Brief an seine Mutter - die er sehr liebt - und sagt sich von ihr los. Er erklärt ihr, sie verdiene es, für ihre eheliche Untreue gesteinigt zu werden.
Das Parlament Zia Khan wurde in eine wohlhabende liberale Moslemfamilie hineingeboren. Wie typisch, wie repräsentativ ist das Leben des jungen Zia oder vielmehr das seiner Familie für die heutige indische Gesellschaft?
Kiran Nagarkar Es ist ein völliger Irrtum anzunehmen, dass Extremisten und Terroristen nur aus den am stärksten unterdrückten und notleidenden Schichten rekrutiert werden. Die meisten Inder, darunter auch die überwiegende Mehrheit der Moslems in Indien, sind sehr arm. Aber es gibt eine bedeutende indische Mittelschicht, und dann gibt es die sehr, sehr reichen Inder, die sowohl in Indien als auch im Ausland leben. Einige der kulturell aufgeklärtesten Inder sind Moslems. Zia ist daher zwar nicht repräsentativ für die Mehrheit der Moslems. Jedoch ist er hinsichtlich der Tatsache, dass er aus einer wohlhabenden liberalen Familie stammt, keine Ausnahme.
Das Parlament In einem Interview verrieten Sie: "Was mich immer fasziniert hat, ist die Tatsache, dass ich nicht von der Religion loskomme." Wäre nicht ein Autor aus Indien, der kein enges Verhältnis zur Religion oder zu Religionen hat, eine größere Überraschung?
Kiran Nagarkar Man kann den westlichen Stereotypen über Indien nicht entrinnen. Einige von ihnen sind zutreffend, einige völlig aus der Luft gegriffen. Offen gesagt: Ich bin keine religiöse Person und gänzlich gegen die organisierte Religion, die in der Welt so viel Schaden angerichtet hat. Bis heute finde ich es schwierig, Hindu-Tempel zu besuchen. Allerdings fühle ich mich, trotz all meiner Beteuerungen, als Romanschreiber intensiv zu der Vielzahl der indischen Götter (insbesondere Krishna) mit ihren unglaublich menschlichen Bemühungen, Fehlern und Charakteren hingezogen.
Das Parlament Zurück zu Zia Khan, "Gottes kleinem Krieger": Am Ende, nach einer abenteuerlichen Odyssee durch Religionen und Kontinente, nach einer Suche nach Identität und wahrem Glauben, verlässt Zia den faszinierten Leser mit mindestens ebenso vielen Fragen wie Antworten. War das Ihre Absicht?
Kiran Nagarkar Ja. Ich wollte keinen Roman mit einer Botschaft schreiben. Bei dieser Art von Romanen bevorzuge ich ein uneindeutiges und ambivalentes Ende.
Das Parlament Für wie "frei" halten Sie die Kunst in Ihrer Heimat und wie ist es um die Meinungsfreiheit bestellt? Ihre eigene (Theater-)Arbeit ist zensiert worden, sie musste zum Teil umgeschrieben werden, und es gibt auch eine staatliche Filmzensur in Indien.
Kiran Nagarkar Trotz der Tatsache, dass wir die Ersten waren, welche die "Satanischen Verse" und vor Jahrzehnten "Neun Stunden zur Ewigkeit", ein Buch über die Ermordung Gandhis, verboten haben, waren wir immer noch eine vergleichsweise liberale Demokratie mit einer guten Bilanz hinsichtlich der rechtsstaatlichen Verfahren. Aber in den vergangenen Jahren übten politische und religiöse Gruppen zunehmend Druck auf das System aus, um aus politischen Gründen vollkommen harmlose Werke zu verbieten. Eine gefährliche Tendenz.
Das Parlament Können Sie ein Beispiel nennen?
Kiran Nagarkar Kein Volk reagiert auf Kino oder Fernsehen wie die Inder. Viele Inder sehen sechs bis neun Stunden pro Tag fern. Das Kino ist die Realität, der wir den Vorzug geben. Aber gehen Sie einmal ins Internet und tippen das Wort "Fanaa" ein, den Titel eines Films unter anderem mit Superstar Aamir Khan. Khan hat sich kritisch gegenüber dem sehr umstrittenen Dammprojekt am Fluss Narmada geäußert. Sein Kommentar wurde bewusst völlig falsch zitiert, da die fundamentalistische Partei (BJP) im Bundesstaat Gujarat das Ganze zu einem Thema machen wollte. Diese Fehlinformationskampagne ist so erfolgreich gewesen, dass die Hindu-Partei BJP Kinobesitzer davon abgehalten hat, "Fanaa" in Gujarat zu zeigen - obwohl Aamir Khan nur den Obersten Gerichtshof zitiert hatte.
Das Parlament Fassen wir zusammen: In Indien gibt es mehr als 20 Sprachen und hunderte gesprochener Dialekte; es gibt alle Weltreligionen und viele religiöse Gruppen; es gibt das noch immer funktionierende Kastensystem; es gibt immer mehr reiche Menschen in einer ansonsten überwiegend armen Gesellschaft; es gibt westliche, knapp bekleidete Frauen neben streng traditionell gekleideten Inderinnen; es gibt die Globalisierung mit all ihren Vor- und Nachteilen. Sind Sie der Ansicht, es wird auch in Zukunft möglich sein, das Land so (relativ) stabil zu halten, wie es das in den vergangenen Jahren gewesen ist?
Kiran Nagarkar Trotz aller möglicher Mängel, dem Analphabetentum, einer abstoßenden Kasten- und Wahlpolitik: Wir sind deshalb noch immer eine funktionierende Demokratie, weil Nehrus Vision die Massen erfasst hat und wir die Demokratie nicht aufgebeben haben, indem wir eine Übernahme durch das Militär oder einen Diktator zugelassen hätten. Zumindest bislang. Dies ist natürlich eine durch und durch unangemessene und vereinfachende Antwort.
Das Parlament Und die Zukunft?
Kiran Nagarkar Nur wenn unsere politische Führung eine echte Vision für Indien entdeckt, nur wenn wir beginnen, an morgen und an die Zukunft zu glauben, nur wenn wir unsere Gier und die Korruption in den Griff bekommen, nur wenn wir uns genauso um diejenigen kümmern, die nichts haben, wie um diejenigen, die viel haben, dann gibt es Anlass zu Hoffnung für Indien. Wie Sie sehen: Zu viele "Wenns" lassen die Situation wenig hoffnungsvoll erscheinen.
Das Interview führte Gerald Giesecke. Er ist Redakteur beim ZDF-Kulturmagazin "aspekte".