Der israelische Friedensaktivist David Damelin hatte mit sich gerungen, ob er in den besetzten palästinensischen Gebieten Militärdienst tun sollte. Am Ende entschied er sich dafür - um anderen Soldaten wenigstens ein Vorbild im Umgang mit den Palästinensern zu sein. Am 3. März 2002 wurde David von einem palästinensischen Scharfschützen erschossen. Seiner Mutter Robi fällt es schwer, schon wieder davon zu erzählen. Die Zuhörer an diesem Abend sind Mitglieder des Komitees für Gerechtigkeit und Frieden der Anglikanischen Kirche in den Vereinigten Staaten. Gottlob zeigen sie Taktgefühl bei ihren Nachfragen. Auch Robis Kollegin an diesem Abend, die Palästinenserin Nadwa kämpft mit den Tränen, als sie schildert, wie sie zum "Elternkreis" stieß, nachdem ihre Schwester erstochen wurde. "Ich war voller Wut und Hass und darin gefangen - bis ich den Elternkreis kennenlernte."
Seit gut zehn Jahren treffen sich leidtragende Israelis und Palästinenser, die Kinder, Brüder, Schwestern und Ehepartner in diesem Konflikt verloren haben. Auslöser für die Gründung des "Parents Circle", wie der "Elternkreis" im Heiligen Land genannt wird, war die Entführung und der Mord am 19-jährigen Israeli Arik Frankenthal durch die "Hamas". Ein Jahr später gründete Ariks Vater den "Elternkreis", den er wenig später auch für palästinensische Hinterbliebene öffnete. Nadwa erinnert sich an ihre erste Begegnung. Dabei fiel ein Satz, der ihr viel bedeutete. "Herr Frankenthal hat für die israelische Besatzung um Verzeihung gebeten." Die Mittvierzigerin aus Ost-Jerusalem verschweigt nicht ihre Einstellung gegenüber Israelis, bevor sie sich dem "Elternkreis" anschloss: "Wir haben einander nie als Menschen gesehen. Zusammenleben hat es nie gegeben." Im Kreis der trauernden Angehörigen war es Nadwa jedoch möglich, "den Schmerz mit anderen zu teilen".
Das Mitteilen der eigenen leidvollen Geschichte ist ein wesentlicher Baustein der "Elternkreis"-Treffen. Könnte dies auch auf politischer Ebene erfolgen - vielleicht im Rahmen einer "Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission", wie sie in Südafrika Erfolge zeitigte und zur Heilung beitrug? Nach Meinung des Elternkreises stecken die beiden Konfliktparteien noch zu sehr in ihrem eigenen Schmerz, "um bereit zu sein, den der anderen Seite anzuerkennen". Doch daran führt kein Weg vorbei, so die Überzeugung der Hinterbliebenen von Terror und Gewalt. "Indem man die persönlichen Schilderungen der Opfer beider Seiten gelten lässt und anerkennt, kann vielleicht endlich ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen beiden Seiten beginnen", meint der Elternkreis. Wie lange wird es jedoch noch dauern, bis das Ziel "Frieden und Versöhnung" erreicht werden kann?
Etwa 500 Familien arbeiten an diesem Ziel im erweiterten Kreis, dem so genannten "Familienforum" mit. Sie alle haben einen Verwandten im israelisch-palästinensischen Konflikt verloren. Dennoch sind sie überzeugt, dass durch Dialog und gegenseitiges Verständnis der Konflikt zwischen beiden Völkern gelöst werden kann. Der Mangel an Vertrauen und Mitgefühl zwischen den beiden Seiten erhalte den Gewaltkreislauf am Leben.
Dem setzt das "Familienforum" eine andere Sichtweise entgegen: beide Seiten mit einem Gefühl für Toleranz und Versöhnung zu durchdringen, anstelle von Rache und Hass. Indem der Versöhnungsprozess Angehörige von Opfern, die auf Rache verzichten, ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stellt, "macht er beide Seiten menschlich und dient als Modell für Israelis und Palästinenser", wie die Broschüre der Organisation mitteilt. Robi Damelin hält dies für wichtig, "damit wir die Dämonisierung des Gegenübers beseitigen". Dabei schöpft sie, die aus Südafrika stammt, Mut und Kraft von Nelson Mandela und der Apartheidbewegung - für sie eine "starke Inspiration".
Robi Damelin und etwa 40 Kollegen gehen Tag für Tag in Schulen, um die junge Generation aufzuklären. "Wenn wir in einer Schule in Tel Aviv fragen, wer schon im Ausland war, heben alle den Arm. Wollen wir aber wissen, wer die palästinensische Stadt Tulkarem kennt, nur zehn Autominuten entfernt, meldet sich keiner." Für Robi haben diese Begegnungen eine enorme Bedeutung - da tanken Jugendliche beider Seiten neue Kraft und Hoffnung für ihren weiteren Friedenseinsatz. "Manche sehen da plötzlich Menschen" wo vorher Feinde waren" - so die Erfahrung von Frau Damelin.
Im Jahr 2004 haben etwa 24.000 israelische und palästinensische Schüler an etwa 800 "Klassen-Zwiegesprächen" teilgenommen. Im vergangenen Jahr konnte deren Zahl erneut gesteigert werden - und hat die 1.000er-Grenze mittlerweile überschritten. Immer wieder zeigen die Reaktionen der 16- bis 18-jährigen Schüler, dass die Begegnungen mit den Hinterbliebenen nicht selten zu einem kompletten Sinneswandel führen. "Nachdem ich die Geschichte der palästinensischen Seite hörte, hatte ich das Gefühl, dass sie Menschen genau wie wir sind. Sie haben Gedanken und Gefühle wie wir und wollen auch Frieden", sagte ein israelischer Schüler aus Hod HaSharon. Und für einen palästinensischen Abiturienten aus Ost-Jerusalem "stärkte und vergrößerte die Begegnung unsere Hoffnung auf Frieden".
Neben dieser Aufklärungsarbeit hat der "Elternkreis" im Herbst 2002 eine weitere Initiative gestartet: das "Hallo-Friedens-Telefon". Dieses Projekt soll Israelis und Palästinenser, die sich vor Ort kaum treffen können, wenigstens am Telefon zusammenbringen. Denn seit dem Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 dürfen israelische Staatsbürger die palästinensischen Gebiete nicht mehr betreten. Palästinenser brauchen im Gegenzug einen "Passierschein", um legal nach Israel fahren zu können. Diese Hürden kennt das Telefon nicht. Um die "stille Hoffnungslosigkeit und Isolation" zu durchbrechen, müssten Menschen wieder miteinander reden, so die Philosophie des kostenlosen Friedenstelefons. Es will außerdem das Vorurteil widerlegen, demzufolge Israelis und Palästinenser nicht über Frieden reden wollen. Doch die Initiatoren der Aktion sehen einen "enormen Hunger nach Gesprächen". Die Anrufer und die Angerufenen sollen letztlich neuen "Druck auf die beiden Regierungen" ausüben, "sich weg von der Gewalt und in Richtung Dialog zu bewegen". Die Anrufer wählen *6364 und geben sich als Israelis oder Palästinenser zu erkennen. In einem zweiten Schritt können sie angeben, dass sie mit einer Person einer bestimmten Altersgruppe reden möchten. Daraufhin werden sie mit der "anderen Seite" verbunden. Seit Oktober 2002 haben bereits über 800.000 Menschen vom Friedenstelefon Gebrauch gemacht. Sein Leitmotto ist: "Es ist Zeit, mit dem Töten aufzuhören und wieder miteinander zu reden."
Robi Damelin hat es mittlerweile sogar über sich gebracht, an den Vater des Scharfschützen, der ihren Sohn tötete, zu schreiben. Darin drückt sie ihre Hoffnung aus, "dass wir uns in der Zukunft treffen und ein normales Leben ohne Gewalt führen können". Ihre Kollegin Nadwa hatte Kurier gespielt und den Brief der Familie des Scharfschützen überbracht. Dessen Bruder nannte Robi "eine sehr mutige Frau". Robi Damelin ist sich sicher, dass die Lösung des Konfliktes darin besteht, "dass sich die Menschen treffen". Es gehe darum, "der Person hinter den Zahlen zu begegnen". Mitgefühl für den Verlust der anderen Seite - auch das ist ein Baustein im Versöhnungsmosaik der Initiative "israelisch-palästinensischer leidtragender Familien für den Frieden, Versöhnung und Toleranz", wie sich der "Elternkreis" auch nennt. "Wir müssen einander vergeben" - erst dann könne Frieden "für beide Völker" entstehen. So lautet das Fazit der Palästinenserin Nadwa.
Erst dieser Tage hat sich ihre Kollegin Robi Damelin wieder zu Wort gemeldet. Dieses Mal im Internet: "Mütter in Israel, im Libanon und in Palästina: Wieviele weiterer Gräber bedarf es, bis wir ,Halt' schreien?" Robi Damelin bittet darum, "sich einander in die Augen zu schauen und den Schmerz zu erkennen" und die Sehnsucht, die nie aufhöre. "Lasst uns einander in die Augen schauen und unsere Menschlichkeit sehen."
Information unter: www.theparentscircle.com und www.hellopeace.net