Was sich in der Türkei nach der Vergabe des diesjährigen Literaturnobelpreises an den Romancier Orhan Pamuk abspielt, sagt viel über den inneren Zustand einer Republik aus, die ein moderner Staat nach europäischem Vorbild sein will, in der Teile der Elite aber immer noch von althergebrachten und oft obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen geprägt sind.
Dass Literaturnobelpreise immer wieder an Schriftsteller gehen, die in ihren eigenen Ländern kontroverse Persönlichkeiten sind, liegt in der Natur der Sache: Gute Literatur entsteht häufig aus der Beschreibung gesellschaftlicher Spannungen und politischer Umwälzungen heraus. Der Fall Pamuk ist da keine Ausnahme. Sein jüngster Roman, "Schnee", beschäftigte sich mit sensiblen Problemen wie der Kopftuch-Frage, dem islamischen Fundamentalismus, der Rückständigkeit und der Gewalttätigkeit der türkischen Gesellschaft.
Für seine nationalistischen Gegner ist Pamuk aber nicht deshalb ein Nestbeschmutzer. Sie werfen ihm vor, mit öffentlichen Äußerungen über die Ermordung von einer Million Armeniern und 30.000 Kurden his-torische Lügen verbreitet und das eigene Land schlecht gemacht zu haben. Diese Kritik wird nicht nur am rechten Rand geäußert, sondern auch in den bürgerlichen Medien. Fatih Altayli, der Chefredakteur der Boulevardzeitung "Sabah", brachte die Gefühle der Pamuk-Gegner auf den Punkt: "Wir sollten uns eigentlich sehr freuen", schrieb Alatyli nach der Bekanntgabe des Nobelpreises für Pamuk. "Aber wir können es nicht. Denn wir sehen Orhan Pamuk nicht als einen der Unseren an. Im Gegenteil. Wir sehen ihn als jemanden, der uns verkauft hat."
Die Entrüstung bezieht sich auf die politischen Positionen des Preisträgers, nicht auf seine Bücher. Die Türkei ist kein Land fleißiger Bücherleser. Wenn ein Werk mehr als 20.000 Mal verkauft wird, gilt es schon als Bestseller. Dass Pamuk der meistverkaufte Schriftsteller in der Türkei ist, sagt deshalb nicht viel über seine Breitenwirkung in den Regalen türkischer Wohnzimmer aus. Die Verärgerung über den angeblichen Vaterlandsverrat des Autors nimmt mitunter absurde Formen an. Ein Landrat in der anatolischen Provinz ordnete im vergangenen Jahr nach Pamuks Armenier-Äußerungen an, alle Bücher des Schriftstellers aus den Bibliotheken seines Landkreises zu entfernen und zu verbrennen - um dann festzustellen, dass es dort kein einziges Exemplar gab.
Selbst die Regierung, die eigentlich stolz darauf sein sollte, dass der erste türkische Nobelpreis in ihre Amtszeit fällt, reagierte merkwürdig vorsichtig auf die Nachricht aus Stockholm. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan brauchte einen ganzen Tag, bis er Pamuk telefonisch beglückwünschte. Parlamentspräsident Bülent Arinc zeigte sich zwar erfreut, forderte Pamuk aber gleichzeitig auf, in seinen öffentlichen Äußerungen künftig vorsichtiger zu sein. Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer ignorierte Pamuk ganz. Es fand sich kein Politiker von Rang, der Pamuks Haltung in der Armenier-Frage als Anstoß für eine längst überfällige Diskussion begrüßt hätte. Das hängt zum einen mit dem Thema selbst zusammen. Es gehört zu den Grundsätzen türkischer Politik, den Vorwurf des Völkermordes an den anatolischen Armeniern in den Jahren 1915 bis 1917 zurückzuweisen und statt dessen von den tragischen Folgen einer kriegsbedingten Umsiedlungsaktion zu sprechen. Der Völkermords-Vorwurf berühre die türkische Identität und die Vorstellung von einer historisch sauberen Nation, sagt der in der Türkei lehrende deutsche Historiker und Pamuk-Übersetzer Christoph K. Neumann. Die Erwähnung des "V-Worts" brachte deshalb nicht nur Pamuk, sondern auch andere Intellektuelle vor Gericht - auch wenn es kein Gesetz gibt, das die Bezeichnung "Völkermord" für die blutigen Ereignisse im Ersten Weltkrieg verbietet.
Aber der Streit um Pamuk reicht noch tiefer. Für Teile der türkischen Elite ist es nicht hinnehmbar, dass ein so prominenter Vertreter des Landes wie Pamuk bei einem hochsensiblen Thema auf der internationalen Bühne Standpunkte vertritt, die der offiziellen Sicht der Dinge widersprechen. Dahinter stehen staatspolitische und gesellschaftliche Prägungen, die weit entfernt sind von der westeuropäischen Auffassung von Pluralismus. Weil die Türken die Gründung ihrer Republik in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegen den Widerstand ausländischer Besatzungsmächte in einem verlustreichen Krieg durchsetzen mussten, hat sich besonders in den kemalistischen Eliten die Vorstellung gehalten, dass die Einheit der Nation das höchste Gut ist - auch höher als die Meinungsfreiheit. In der Armee sowie in Teilen der Justiz und der Bürokratie ist diese Weltsicht häufig anzutreffen. Bis heute verbreiten türkische Schulbücher die These, fremde Mächte wollten die Türkei schwächen und spalten. Dissens und Diskussionen bei sensiblen Themen geraten deshalb schnell in den Verdacht staatsfeindlicher Aktivitäten.
Hätte sich Pamuk auf internationaler Bühne über ein vergleichsweise unverfängliches Thema wie die Korruption in der Türkei geäußert, wäre sein Nobelpreis in seiner Heimat vermutlich wesentlich begeisterter aufgenommen worden. Wenn türkische Politiker von Pamuks "Verantwortung" reden, dann meinen sie damit, dass der Autor die Finger von Streitfragen wie den Armenier-Massakern oder dem Kurdenkonflikt lassen soll. Pamuk selbst wehrt sich seit Jahren, von der offiziellen Türkei vereinnahmt zu werden: 1998 lehnte er den Titel des "Staatskünstlers" ab. Das macht ihn in Ankara nicht beliebter. Schon lange vor Pamuk zeigte sich, wie unversöhnlich der türkische Staat sein kann, wenn er einen Literaten als Landesverräter sieht. Nazim Hikmet, der bedeutendste Lyriker der Türkei, wurde in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts wegen seiner kommunistischen Überzeugungen verfolgt, inhaftiert, mit einem Publikationsverbot belegt und schließlich ausgebürgert. Bis heute sind alle Versuche gescheitert, Hikmet zu rehabilitieren - selbst mehr als 40 Jahre nach seinem Tod 1963 im sowjetischen Exil gilt der Dichter als Staatsfeind.
Einige Nationalisten fordern jetzt auch im Fall Pamuks die Ausbürgerung. Ganz so schlimm dürfte es für Pamuk zwar nicht kommen, doch die Anfeindungen gegen den erfolgreichsten Schriftsteller der modernen Türkei werden weitergehen. Nationalisten verlangen, Pamuk solle sich entschuldigen und den Nobelpreis zurückgeben, der ihm ohnehin nur aus politischen Gründen verliehen worden sei. Pamuk hat es gewagt, den türkischen Staat an einem neuralgischen Punkt herauszufordern, um eine Debatte über schmerzliche Ereignisse der Vergangenheit anzustoßen. Das wird ihm so schnell nicht verziehen. Auf ein Glückwunschtelegramm des Staatspräsident kann Pamuk vermutlich lange warten.