Solche Meldungen sind Stoff für große Schlagzeilen: Die Türkei droht Frankreich als seinem viertgrößten Handelspartner mit einem Wirtschaftskrieg, Verbraucherverbände am Bosporus rufen zum Boykott französischer Waren auf und die Medienaufsicht fordert TV- und Radiosender zur Absetzung französischer Filme und Musik auf. Zudem interveniert der türkische Premierminister Tayyip Erdogan telefonisch bei Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac.
Ankara ist empört über ein am 12. Oktober vom Parlament in Paris beschlossenes Gesetz, das die Leugnung des als Völkermord eingestuften türkischen Massakers an Armeniern im und nach dem Ersten Weltkrieg unter Strafe stellt. Der Konflikt schürt nicht nur Spannungen zwischen Ankara und Frankreich, sondern droht auch die ohnehin komplizierten Beitrittsverhandlungen zwischen Brüssel und der Türkei zusätzlich zu belasten. Dieser außenpolitische Streit drängt indes das Kernproblem in den Hintergrund: Kann und darf der Staat in einer Demokratie dekretieren, was "wahr" ist? Ist so etwas mit der Freiheit der Meinung, der Medien, der Kultur, der Wissenschaft vereinbar?
Nun ist nicht sicher, ob das von den oppositionellen Sozialisten eingebrachte und mit 106 gegen 19 Stimmen verabschiedete Gesetz in Kraft tritt. Der Senat muss erst noch zustimmen. Die konservative Regierungsmehrheit vermittelt ein diffuses Bild. Im Namen des Kabinetts lehnt Europaministerin Catherine Colonna die neuen Strafbestimmungen ab: Es sei nicht Aufgabe des Gesetzgebers, "Geschichte zu schreiben". Doch viele Abgeordnete des Regierungslagers blieben dem Votum in der Nationalversammlung fern. Ein Gesetz aus dem Jahr 2001 definiert den seinerzeitigen Völkermord an den Armeniern bereits offiziell als his-torische Tatsache. Jetzt soll dessen Leugnung mit bis zu einem Jahr Haft und 45.000 Euro Geldstrafe geahndet werden können.
Eine Initiative französischer Wissenschaftler appelliert an Chirac, bei einem positiven Votum des Senats für das ominöse neue Gesetz das Verfassungsgericht anzurufen, um diese Bestimmungen doch noch zu verhindern. Unter dem Namen "Liberté pour l'histoire" (Freiheit für die Geschichte) kritisiert eine Gruppe von rund 700 Historikern die wachsende Tendenz in Frankreich, mit "Erinnerungsgesetzen" eine offizielle Geschichtsschreibung festzulegen. Die Armenier-Regelung ist nicht der erste Fall: So tat sich die Nationalversammlung auch schon mit Vorschriften zur Behandlung der Kolonialvergangenheit im Schulunterricht hervor. Natürlich wollen die Wissenschaftler das brutale Vorgehen im Osmanischen Reich gegen die Armenier, bei dem nach vorherrschender Meinung der His-toriker eine Million bis 1,5 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben sollen, nicht rechtfertigen. Die Intellektuellen verteidigen jedoch die freie Meinungsäußerung und Forschung. Es sei nicht hinnehmbar, dass in Frankreich über die Vergangenheit eine "Staatswahrheit" nach der anderen dekretiert werde. Bülent Arinc, Präsident der Volksvertretung in Ankara, attackiert das französische Gesetz als "schweren Schlag für die Meinungs- und Gedankenfreiheit". Nun darf bezweifelt werden, dass die Türkei angesichts der trotz mancher Fortschritte andauernden Restriktionen gegenüber Medien und Schriftstellern ein geeigneter Kronzeuge für Liberalität ist. Die von der Medienaufsicht, dem "Obersten Rat für Rundfunk und Fernsehen", als Racheakt propagierte Absetzung französischer Produktionen im Rundfunk mutet ebenso grotesk an, zeugt aber zudem nicht gerade von einem ausgeprägten Verständnis von Pressefreiheit. Wie soll Brüssel jedoch bei den Aufnahmeverhandlungen mit Ankara glaubwürdig auf innere Liberalität dringen, wenn ein zentraler EU-Staat seinerseits repressiv in die Geschichtsschreibung eingreift? Brüssel lehnt denn auch das französische Strafgesetz ab. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn meint, dieser Vorstoß sei gerade in einer kritischen Phase der Beitrittsgespräche kontraproduktiv. Und Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärte, die Entscheidung der Pariser Nationalversammlung sei den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei nicht dienlich. Nach einem Gespräch in Ankara mit Außenminister Abdullah Gül erklärte René van der Linden, Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, das französische Gesetz widerspreche dem Prinzip der Meinungsfreiheit. Geschichtsinterpretation dürften kein Thema für die Gesetzgebung sein, mahnt der Politiker. Bislang weigert sich die Türkei, die damaligen Ausschreitungen gegen Armenier als "Völkermord" einzustufen. Auch in der Türkei wird diese Meinung immer häufiger kritisiert. Der Paukenschlag in Paris könnte nun zu einer Trotzreaktion führen und die überfällige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gefährden. Der türkische Historiker Halil Berktay betont, eine neue Einstellung in dieser Frage werde sich nur aus dem Land selbst heraus entwickeln: Das könne "nicht von außen aufgezwungen werden".