Der jüdische Junge Lev Abramovsky wird am 9. November 1941 in seiner weißrussischen Heimatstadt durch Schüsse geweckt. Die SS und ukrainische Milizen treiben die Juden auf einem Friedhof zusammen. Von einem nahe gelegenen Heuboden aus beobachtet Lev, wie seine Mutter, sein Vater, seine zwei Brüder, seine Schwester und ihr Mann gemeinsam mit dutzenden anderen erschossen werden.
Unterthurnbach in Österreich gegen Kriegsende: Die drei Freundinnen Edith, Anni und Helga springen von ihren Fahrrädern, als sie von alliierten Flugzeugen beschossen werden. Anni bleibt tot liegen. "Warum schießen sie auf ein zehnjähriges Mädchen?", fragt sich Helga.
Die Schlacht um Berlin: Der Hitlerjunge Lothar Loewe vernichtet mit seiner Panzerfaust einen sowjetischen Tank. Sein Jubel verstummt, als er sieht, wie die SS alle Bewohner eines Hauses, die die weiße Fahnen herausgehängt hatten, auf der Straße ermordet.
Drei Erlebnisse von Kindern, drei völlig unterschiedliche Kriegserfahrungen. So verschieden der Alltag von Kindern und Jugendlichen in dieser Zeit auch war, so haben sie eines gemeinsam: Das Terrorregime der Nazis und der Krieg haben sie alle tief geprägt. Der aus-tralische Historiker Nicholas Stargardt, er lehrt Moderne Europäische Geschichte in Oxford, hatte sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die Erlebnisse und Erinnerungen dieser Generation zu sammeln. "Die Nationalsozialisten sahen das reinrassige, gut erzogene und aufrechte deutsche Kind als die rassische Zukunft des Volkes vor sich, und sie waren sich nur zu sehr der Tatsache bewusst, dass dies die erste Generation war, die sie aufziehen und von Kindheit an formen konnten", schreibt Stargardt in seinem Buch "Maikäfer flieg! Hitlers Krieg und die Kinder".
Die Jungen und Mädchen zeigten sich empfänglich für die simplen Wertevorstellungen der neuen Ideologie. Und als das NS-Reich längst dem Untergang geweiht war, scheute das Regime nicht davor zurück, diese opferbereiten Jugendlichen in den Tod zu schicken - im Jahr 1945 starben 27.000 Hitlerjungen an der Front. Die Entscheidung der Nazis, ihre Jugend zu opfern, war paradox: Jahrelang waren sie durch Kinderlandverschickung vor den alliierten Bomben und mit in ganz Europa geraubten Lebensmitteln vor Mangelernährung geschützt worden.
Für Kinder, die nicht in das Rasse-Konzept der Nazis passten, gab es keine solche Schonfrist: Behinderte oder jüdische Kinder und die Halbwüchsigen der Sinti und Roma wurden tausendfach in den besetzten Gebieten ermordet. Diejenigen im Reich, die sich nicht anpassen wollten, die ihr Haar lang trugen, von der Hitlerjugend nichts hielten und Jazz-Musik hörten, landeten nicht selten in Gefängnissen und Erziehungsheimen.
Stargardts Buch ist mehr Erzählung als Analyse. Weitgehend chronologisch schildert er die Ereignisse und lässt die Betroffenen zu Wort kommen. Die eindringlichen Beschreibungen sind die Stärke des Buches, die weit ausholenden Darstellungen der politischen Ereignisse seine Schwäche. Allgemeingültige Aussagen über die Erfahrungen "der Kriegsjugend" lassen sich kaum machen. Dafür waren die Schicksale von Millionen von Kindern zu verschieden. Doch einige Phänomene scheinen typisch für die Kriegsgeneration: Etwa die durch Krieg und Besatzung ausgelösten Krisen in vielen Familien, als die Eltern Verantwortung an ihre älteren Kinder abgaben. Stargardt hat ein außergewöhnliches Buch geschrieben und einen neuen Blickwinkel gewählt. Indem er die Kriegsgreuel aus der Sicht der Kleinsten und Schwächsten beschreibt, erinnert er daran, dass Kinder die letzten Opfer eines Krieges sind. Sie tragen die Erinnerung an die Schre-cken bis an ihr Lebensende mit sich.
Nicholas Stargardt: Maikäfer flieg! Hitlers Krieg und die Kinder. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006; 608 S.; 34,90 Euro