Das Parlament: Frau Rupprecht, die Kinderkommission hat vergangenen Montag eine Anhörung zum Thema "Kinderrechte in die Verfassung" veranstaltet. Warum ist die Verankerung von Kinderrechten in der Verfassung sinnvoll?
Marlene Rupprecht: Wir wollen, dass Kinder als Rechtssubjekte auch in der Verfassung vorkommen. Kinder sollen nicht nur als schutzbedürftige Wesen, wie es bisher im Bürgerlichen Gesetzbuch bei Ehe und Familie drin steht, verstanden werden. Kinder haben eigene Rechte und sind nicht nur Anhängsel ihrer Eltern. Dieses Rechtsverständnis muss deutlicher als bisher erkennbar sein.
Das Parlament: Was für Rechte wollen Sie durchsetzen?
Marlene Rupprecht: Wir wollen eine andere Einstellung in der Gesellschaft zu Kindern bewirken. Kinderrechte sollen in bestimmten Konfliktsituationen, wie zum Beispiel bei Scheidungen und Trennungen der Eltern, viel stärker als bisher respektiert werden. Es soll richterliche Praxis sein, dass sie ab einem bestimmten Alter angehört werden, stärker mitbestimmen können.
Das Parlament: Inwiefern soll sich die Einstellung der Gesellschaft verändern?
Marlene Rupprecht: Wir sind eine kinderentwöhnte Gesellschaft. Wir planen für Erwachsene Stadtviertel, Häuser und Straßen. Unser Wirtschaftsrhythmus ist nicht auf Kinder eingerichtet. Es ist uns relativ egal, ob wir Familien haben, bei denen die Eltern gleichzeitig zu Hause sein können, oder ob wir Familien haben, bei denen der Vater hundert Kilometer entfernt seine Arbeitsstelle hat und die Mutter Schicht arbeitet. Niemand fragt, wie geht es den Kindern? Wann können die ihre Eltern sehen? Aber auch in der Schule werden Kinder mit ihren individuellen Bedürfnissen nicht ernst genommen. Wir wollen eine bestmögliche Förderung in Kindergärten und Schulen in der Verfassung festschreiben. Allen Kindern sollen gute Chancen und Zukunftsperspektiven ermöglicht werden. Wir wollen, dass die Kommunen stärker als bisher in Konfliktlagen eingreifen, wenn sie sehen, dort ist ein Kind in einer gefährdeten Situation.
Das Parlament: Aber damit steckt die Gesellschaft doch in einem riesigen Dilemma. Politik und Wirtschaft fordern, Arbeitnehmer müssen flexibel und mobil sein. Dieses Bild vom Arbeitnehmer passt nicht mit dem von Ihnen entworfenen Bild zusammen.
Marlene Rupprecht: Natürlich sehe ich auch die Bedürfnisse der Wirtschaft, ich sehe auch die von Erwachsenen. Aber müssen denn immer die Kinder hinten runter fallen? Oder kann man etwas gemeinsam gestalten, was für alle besser ist? Wir haben heute einen hohen Anteil an Menschen, die rund um die Uhr arbeiten. Brauchen und wollen wir das als Gesellschaft wirklich? Müssen wir so flexibel sein, dass auch samstags und sonntags die Läden 24 Stunden offen sind und Familienleben fast nicht mehr statt findet? Ist es wichtiger, die Kauflust zu befriedigen als gemeinsam am Tisch zu sitzen? Wenn Demokratie erhalten bleiben soll, braucht man stabile Kinder. Kinder, die in dieser Welt mit beiden Füßen stehen. Ansonsten wird letztlich die ganze Gesellschaft instabil.
Das Parlament: Dann sind auch die Rahmenbedingungen zum Kinderkriegen falsch gestellt...
Marlene Rupprecht: Allerdings. Viele Menschen bekommen keine Kinder mehr. Und zwar nicht deshalb, weil sie Kinder an sich nicht mögen, sondern weil viele Leute nur noch unter ganz großen Schwierigkeiten Kinder aufziehen können.
Das Parlament: Wie können Kinder in Zukunft ihre Rechte besser einfordern?
Marlene Rupprecht: Wenn Kinder nicht entsprechend ihrer Bedürfnisse aufwachsen, kann man sich aufs Grundgesetz berufen und bei einer Klage wird daraus ein Verfassungsgerichtsurteil ergehen. Das hat einen ganz anderen Stellenwert, ein anderes Gewicht und sendet ein anderes Signal in die Gesellschaft hinein, als ein Urteil durch ein Oberlandesgericht. Es wäre spannend, wie beispielsweise im Fall einer Siedlungsplanung entschieden werden würde, wenn Kinder wegen einer den Ort durchschneidenden Ausfallstraße nicht mehr in den anderen Ortsteil gehen können. Dann müsste sich das Verfassungsgericht damit befassen und würde vermutlich zugunsten der Kinder entscheiden.
Das Parlament: Gab es bei der Anhörung auch Gegenargumente?
Marlene Rupprecht: Ja, sicher. Es sind auch welche, die ich nachvollziehen kann. Ich war früher auch der Meinung, dass es reicht zu sagen, Kinder sind Menschen und damit sind die Menschenrechte auf die Kinder zu übertragen. Aber genau das hat das Verfassungsgericht erst in den 60er-Jahren entschieden und festgestellt. Es war also bis dahin nicht Allgemeingut, dass auch Kinder Rechtssubjekte, Träger von Rechten sind. Sonst hätte das Verfassungsgericht darauf nicht extra noch einmal hinweisen müssen.
Das Parlament: Wie schnell erhoffen Sie sich eine Wirkung?
Marlene Rupprecht: Man darf nicht den Fehler begehen zu glauben, dass so eine Verfassungsänderung unmittelbar morgen etwas bewirkt. Das wirkt sich langfristig aus. Als wir das Prinzip der Gewaltfreiheit in der Erziehung von Kindern im Bürgerlichen Gesetzbuch eingeführt haben, hat sich die Einstellung in der Gesellschaft zur Erziehung auch erst allmählich verändert. Heute ist es Konsens, dass man Kinder nicht schlägt.
Das Parlament: In welchem Land sind Kinderrechte bereits in der Verfassung verankert?
Marlene Rupprecht: Zum Beispiel in Bayern. In der bayerischen Verfassung steht: Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes. Toll nicht?
Das Parlament: Ist denn in Bayern tatsächlich etwas anders als in anderen Bundesländen oder Ländern?
Marlene Rupprecht: Zumindest kann man sich in Bayern im Fall der Fälle darauf berufen. In den Verfassungen der neu hinzu gekommenen EU-Länder sind überall Kinderrechte verankert und auch in der EU-Grundrechtscharta sind Kinderrechte festgeschrieben. Es stünde uns wirklich gut an, wenn wir ein ähnliches Zeichen setzen würden.
Das Interview führte Annette Rollmann