Die Menschenrechte, so meint Anne Haaland Matláry, sind in Gefahr, durch großzügige Erweiterungen aufgeweicht und relativiert zu werden. Als Beispiel nennt die überzeugte Katholikin und ehemalige Vizeaußenministerin Norwegens in ihrem Buch "Veruntreute Menschenrechte" die Reklamierung von Feministinnen auf ein Recht auf Abtreibung, die Legalisierung der Homoehe in zahlreichen Ländern und die zunehmende Befürwortung von Eu-thanasiemaßnahmen von Schwerkranken durch Ärzte und Patienten. Die Menschenrechtskonvention von 1948 werde beliebig als "Mehrzweckargument" missbraucht, zum Schaden von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Ursache für die Verwässerung der Menschenrechte sieht Matláry vor allem in der Dekadenz der westlichen Wohlstandsgesellschaften. Der "selbstbezügliche Mensch" sei zunehmend utilitaristisch, narzistisch und materialistisch. Er fordere Menschenrechte ein für individuelle Interessen, so zum Schutz allein erziehender Mütter oder zur Anerkennung homosexueller Adoptionen. Dem egozentrischen Staatsbürger von heute gehe die Fähigkeit ab, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, er werde in erschreckendem Maße "verantwortungslos, amoralisch und autistisch". Die traditionellen christlichen Werte und Tugenden, "Kühnheit, Klugheit, Mut" sowie "Glauben, Hoffnung, Liebe" seien weitgehend verloren gegangen. Einziger allgemein anerkannter Wertmaßstab seien Geld und Besitz. Die Habgier der Großunternehmer, immer höhere Gewinne einzustreichen und bedenkenlos Arbeitnehmer zu entlassen, werde zum Freibrief für jedermann, jede Solidarität für Schwache und Benachteiligte aufzugeben.
Für unerlässlich hält es deshalb die Autorin, zurzeit Mitglied des päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, zum Naturrecht eines Aristoteles und Thomas von Aquin zurückzufinden. Sie schildert ausführlich Leben und Werk von Papst Johannes Paul II. - für sie ein "einzigartiger internationaler Akteur mit einer einzigartigen Mission" - und von Papst Benedikt XVI., einem Mann mit "messerscharfer Logik" und "moralischer Kraft". Die Vertraute des Heiligen Stuhls ist überzeugt, dass der Schlüssel zur Umkehr in der katholischen Soziallehre liegt, wenn das Gemeinwohl wieder an die erste Stelle gesetzt, die Familie materiell und ideologisch gestärkt und den Unterprivilegierten vorbehaltlos beigestanden werden soll.
Allerdings sieht Matláry auch, wie mühselig und auf lange Sicht wahrscheinlich aussichtslos die Lösung aus der Umklammerung durch eine profitorientierte Gesellschaft sein wird. Infolge der Globalisierung und angesichts eines hemmungslosen neoliberalen Kapitalismus sei der Nationalstaat geschwächt, befinde sich der Rechtsstaat "in der Zange", würden Menschenwürde, Ethik und Rationalität weitgehend außer Kraft gesetzt. Es dominierten die Interessen einzelner Gruppen, und supranationale Institutionen schränkten die Autonomie der Länderregierungen ein.
Der Autorin hat mit ihrer Analyse der gegenwärtigen Lebensverhältnisse in vielen Punkten natürlich recht. Ihre vehementer Abscheu gegen jede Form der Abtreibung sowie die strikte Unnachgiebigkeit gegenüber gleichgeschlechtlicher Partnerschaft und Ehe sind allerdings nur schwer nachvollziehbar, ebenso ihre Überzeugung, dass Wahrheit und Rettung allein im Schoß der katholischen Kirche ruhen. Gleichwohl ist das Buch dieser überaus engagierten und erfahrenen Politikerin auch für Nichtkatholiken durchaus lesenswert.
Janne Haaland Matláry: Veruntreute Menschenrechte. Droht eine Diktatur des Relativismus? Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2006; 207 S., 18,90 Euro.