Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben", sagt Pawel Kortschagin, der Held in Nikolai Ostrowskis Roman "Wie der Stahl gehärtet wurde". In der DDR war das ein Kultbuch, ganze Generationen von Schulkindern im Osten sind mit ihm groß geworden. Nur: So wertvoll wie dem unermüdlich kämpfenden Revolutionär im Buch war das Leben seinen Lesern nicht immer - in kaum einem anderen Land der Welt begingen so viele Menschen Selbstmord wie in der DDR. 5.000 bis 6.000 Menschen waren es pro Jahr, fast doppelt so viele wie in der Bundesrepublik.
In Osten wurden diese Todesfälle vertuscht. Seit 1963 tauchten sie in keiner Statistik mehr auf. Selbsttötungen galten dem sozialistischen System als "wesensfremd", sie passten nicht zum Image des vorbild-lichen und sozialen Arbeiter-und-Bauern-Staates. Erst mit den Jahren wurde diese Überzeugung durch eine etwas realistischere Sichtweise abgelöst.
Doch warum waren die Selbstmorde in der DDR ein solches Tabu? Und warum nahmen sich überhaupt so viele Menschen das Leben? Diese Fragen stellte sich auch der Leipziger Historiker und Biochemiker Udo Grashoff. Fünf Jahre lang durchforstete er zahllose Archive, entdeckte bislang unveröffentlichtes Material und wertete mehrere tausend Suizidfälle aus. Seine nun vorliegende Analyse ",In einem Anfall von Depression…' Selbsttötungen in der DDR" ist die bisher umfassendste ihrer Art und mit Sicherheit auch die differenzierteste. Denn Grashoff, Jahrgang 1966 und aufgewachsen in Halle an der Saale, klebt nicht, wie viele Wissenschaftler, an seiner These. Vielmehr schafft er es, sich im Laufe seiner Recherchen von ihr zu lösen und sie sogar zu revidieren - sie erwies schlicht als nicht haltbar, obwohl sie nahe lag: Es muss, so vermuteten schon Psychiater und Regimegegner zu DDR-Zeiten, einen Zusammenhang geben zwischen der hohen Suizidrate und den Repressionen der SED-Diktatur. Der Mauerbau, die Verfolgung Andersdenkender, aber auch die Zustände in den Gefängnissen und in der Nationalen Volksarmee bildeten schließlich einen geradezu idealen Nährboden für Gefühle von Ausweglosigkeit und Depression.
Dafür aber fand Grashoff kaum Indizien. Sein Resümee fällt daher auch für ihn überraschend aus: Die sehr hohe Selbsttötungsrate sei "im Großen und Ganzen nicht auf politische und ökonomische Rahmenbedingungen rückführbar". Vielmehr seien regionale Prägungen und Mentalitäten, aber auch der im Osten verbreitete Protestantismus für die Ausschläge in der Statistik verantwortlich. Grashoff belegt das durch Beispiele: Auf dem Gebiet der DDR habe es schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts deutlich mehr Suizide gegeben, als in den westlichen, katholisch geprägten Gebieten. Außerdem seien unter den bis zu 6.000 Suiziden jährlich weder Ausreisewillige, noch Oppositionelle, noch Gefängnisinsassen oder NVA-Angehörige überdurchschnittlich vertreten gewesen.
Was die Häftlinge angeht, liefert Grashoff eine interessante Begründung: Verzweiflung und Todessehnsucht hat es in den Gefängnissen der DDR sehr wohl gegeben, nur war ein Selbstmord so gut wie unmöglich: Die Zellen wurden ständig kontrolliert, das Licht blieb an, Kennzeichen der "totalen Institution" Gefängnis, schreibt Grashoff, war "der weitgehende Verlust der Verfügbarkeit über das eigene Leben". In der Bundesrepublik war die Zahl der Selbsttötungen in den Gefängnissen daher um ein Dreifaches höher - ein Beispiel dafür, dass die Suizidrate allein wenig aussagekräftig ist.
Es ist Grashoffs Verdienst, dass er sich von der bloßen Statistik nicht irreführen lässt. Sachlich, differenziert und ohne jede Sensationsgier geht er den Motiven der Selbstmorde auf die Spur und zeigt auf, wie unfähig das Regime war, mit dem Thema offen und selbstkritisch umzugehen. Der "erste sozialistische Staat auf deutschem Boden" wird damit nur teilweise entlastet: Mag seine Willkür auch nicht in erster Linie für die Suizide verantwortlich gewesen sein - seine Strategie, das Problem im wahrsten Sinne des Wortes totzuschweigen, war es wohl.
Udo Grashoff: "In einem Anfall von Depression…" Selbsttötungen in der DDR. Ch. Links Verlag, Berlin 2006; 520 S., 29,90 Euro.