Das Parlament: Frau Staatsministerin, würden Sie jungen türkischen Frauen raten, nach Deutschland zu ziehen?
Maria Böhmer: Wenn der Wille zur Integration, das Ja zu Deutschland vorhanden ist, ja.
Das Parlament: Aber genau das Ja fehlt doch häufig. Viele türkische Frauen sind nicht gut integriert, leben isoliert und beherrschen die deutsche Sprache nicht...
Maria Böhmer: ...man muss sehr differenzieren: Handelt es sich um Frauen, die eine gute Schul- und Ausbildung haben, in großen Städten leben und selbstständig sind? Oder geht es um Frauen, die in ländlichen Regionen zu Hause sind und kaum eine Schule von innen gesehen haben? Für sie ist es eine Zeitreise, wenn sie nach Köln, Berlin oder Hamburg kommen. Zudem gehen viele hier lebende türkische Männer der zweiten und dritten Generation in ihrer Integration eher einen Schritt zurück als nach vorn, wenn sie eine Frau aus ländlichen Gebieten heiraten. Gerade diesen Frauen müssen wir eine bessere Teilhabe in unserem Land ermöglichen.
Das Parlament: Waren Sie schon mal in Anatolien?
Maria Böhmer: Ja. Ich bin dort erst kürzlich hingereist, um mir ein Bild zu machen. Obwohl die türkische Regierung große Reformanstrengungen gerade beim Schulbesuch von Mädchen unternommen hat, gehen immer noch mehr als 500.000 türkische Mädchen nie zur Schule. Kommen diese Frauen im Wege des Familiennachzuges nach Deutschland, dann haben sie und wir mit Problemen zu kämpfen.
Das Parlament: Immer mehr muslimische Frauen in Deutschland tragen ein Kopftuch. Viele sehen im Kopftuch lediglich ein religiöses Symbol, andere verstehen darunter ein politisches Bekenntnis. Wie interpretieren Sie das Kopftuch?
Maria Böhmer: Wenn Frauen gezwungen werden, das Kopftuch zu tragen, dann sehe ich es als Zeichen der Unterdrückung. Frauen sollen ihr Leben frei gestalten können. Gleichberechtigung gilt für alle Frauen, nicht nur für deutsche Frauen. Ich unterstütze die mutige Haltung der Grünen-Bundestagskollegin Ekin Deligöz, die Frauen aufgefordert hat, das Kopftuch abzulegen.
Das Parlament: Welche Anstrengungen müssen die deutsche Politik und die Gesellschaft unternehmen und welche Bringschuld haben Migranten? Welche Werte müssen sie teilen?
Maria Böhmer: Mir ist wichtig, dass sie unsere Verfassung und unsere rechtlichen Regelungen akzeptieren. Aber es ist auch wichtig, dass wir die Religion und Kultur des anderen kennen und akzeptieren. Außerdem ist mir bei meinem Besuch in der Türkei klar geworden, dass die Menschen schon vor ihrer Einreise besser auf Deutschland vorbereitet werden müssen. Sie sollten über das Leben und die Kultur in Deutschland informiert sein. Schon in ihrer Heimat sollten sie einfache Sprachkenntnisse erwerben, die dann durch die Teilnahme an einem Integrationskurs in Deutschland verbessert werden.
Das Parlament: Haben Sie einen Integrationskurs besucht?
Maria Böhmer: Ja, mehrfach. Ich habe dort Menschen erlebt, die seit mehr als 15 Jahren in Deutschland leben und nur gebrochen Deutsch sprechen. Dabei fällt mit immer ein Satz von Wittgenstein ein: "Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt." Das heißt, wer die deutsche Sprache nicht beherrscht, dem kann sich das Leben in Deutschland auch nicht erschließen. Deutsche und Migranten leben oftmals mehr nebeneinander als miteinander. Um das zu ändern, ist die deutsche Sprache eine Grundvoraussetzung. Genauso wichtig wie die Integrationskurse ist daher, dass Kinder im Kindergarten so gut Deutsch lernen, dass sie später dem Unterricht folgen können.
Das Parlament Mit dem Zuwanderungsgesetzt sind die Kurse zur Pflicht geworden. Reicht das aus?
Maria Böhmer: Es ist erfreulich, dass nicht nur die neuen Zuwanderer zu den Integrationskursen kommen, sondern viele, die schon lange in unserem Land leben. Positiv ist auch, dass zwei Drittel der Teilnehmer Frauen sind. Jetzt geht es darum, die Integrationskurse weiterzuentwickeln. Wir brauchen spezifische Angebote etwa für Analphabeten und Mütter. Für sie muss die Kinderbetreuung verbessert werden. Jugendliche brauchen Kurse, die sie möglichst schnell an den Arbeitsmarkt heranführen.
Das Parlament: Wenn man in einen Discount-Supermarkt geht, findet man dort im Regal schon lange Bulgur, Tzatziki und Ayran. Warum denkt die Industrie schneller als die Politik handelt?
Maria Böhmer: Mit Pizza und Gyros lässt sich die Integrationsfrage nicht bewältigen. Man darf nicht vergessen, dass lange Zeit sowohl die Deutschen als auch so genannte Gastarbeiter davon ausgingen, dass diese nach einiger Zeit wieder in ihre Heimat zurück-kehren.
Das Parlament: Aber das galt doch nicht mehr für die 90er-Jahre. Da war doch klar, dass die Gastarbeiter in Deutschland bleiben würden.
Maria Böhmer: Es hat lange gedauert, bis man wirklich realisiert hat, dass die Migranten bleiben werden. Und noch länger hat es gedauert, bis die Politik dieser Einsicht Taten hat folgen lassen. Der Traum von Multikulti, dem vor allem die Grünen nachgehangen haben, ist zerplatzt. Andererseits hat auch die CDU lange gebraucht anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Diese Erkenntnis ist aber Voraussetzung, um Integrationspolitikpolitik aktiv betreiben zu können. Unser Grundsatz heißt fördern und fordern. Eine entscheidende Weichenstellung ist, dass wir nicht mehr über Migranten reden, sondern mit ihnen. Migranten müssen sich nun selbst einbringen und auch Verantwortung übernehmen. Und sie wollen das auch!
Das Parlament: Deshalb der Integrationsgipfel und die Islamkonferenz?
Maria Böhmer: Ja. Ich warne aber davor, die Integrationsfrage - wie es heute häufig passiert - auf den Dialog mit dem Islam zu reduzieren. Von 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind nur etwa drei Millionen Muslime. Wir haben auch erhebliche Defizite in der Integration mit anderen Bevölkerungsgruppen.
Das Parlament: Welche Gruppen meinen Sie?
Maria Böhmer: Ich registriere beispielsweise die schlechten Schulabschlüsse und die mangelhafte berufliche Qualifizierung von italienischen Jugendlichen. Die spezifischen Gründe kennen wir nicht. Das offenbart auch ein Forschungsdefizit. Wir brauchen insbesondere mehr nach Herkunftsländern differenzierende Daten zur Migration.
Das Parlament: Gibt es ein persönliches Schlüsselerlebnis, das Sie zu der Einsicht gebracht hat: Es muss etwas passieren?
Maria Böhmer: Es ist nicht ein einzelnes Erlebnis, obwohl die Unruhen in den französischen Vorstädten und die Ereignisse an der Rütli-Schule mich schon sehr zum Nachdenken gebracht haben. Wie kommt es dazu, dass junge Menschen so gewaltbereit sind? Als Bildungspolitikerin habe ich mir die Statistiken angeschaut. 40 Prozent der Migrantenkinder machen keinen Berufsabschluss. Da wurde mir klar: Wenn wir das nicht schnell ändern, werden wir eine Generation he-ranziehen, die in der Hoffnungslosigkeit endet.
Das Parlament: Diese Anstrengungen werden womöglich bei denjenigen greifen, die sehr jung sind. Aber was ist mit der großen Masse der Jugendlichen und Erwachsenen? Wie wollen Sie die noch einholen?
Maria Böhmer: Deshalb erarbeiten wir den Nationalen Integrationsplan, der nicht nur Sache des Bundes ist, sondern auch die Länder einbindet. Vor Ort entscheidet sich, wie man zusammen lebt. Es gibt beispielsweise immer mehr Schulen, die Probleme einvernehmlich mit Lehrern, Schülern und Eltern lösen. Ein Beispiel ist die Berliner Hoover-Schule, die sich zu Deutsch auf dem Schulhof als gemeinsame Sprache verpflichtet hat.
Das Parlament: Nach den Krawallen von Jugendlichen in Kreuzberg titelte der Berliner Tagesspiegel: "Der Mob ist da." Wie empfinden Sie so eine Schlagzeile?
Maria Böhmer: Als reißerisch. Es war erschreckend, wie Jugendliche auf die Straße gegangen sind und versuchten, Polizisten zu verprügeln. Man kann diese Kinder nicht nur als Opfer einer Entwick-lung sehen, sondern man muss ihnen auch sagen, dass sie sich anstrengen müssen! Ohne Abschluss und mit einer kriminellen Karriere haben sie keine Perspektive. Da aber die Kriminalität erheblich ist, brauchen wir mehr Polizisten mit Migrationshintergrund. In Berlin sind es gerade mal 100. Und es gibt auch zu wenige Lehrer und Mitarbeiter in der Verwaltung mit Migrationshintergrund.
Das Parlament: Migranten kann man auch dadurch stabilisieren, indem man den "Geduldeten" ein Aufenthaltsrecht einräumt. Kürzlich hat die Innenministerkonferenz einen Bleiberechtskompromiss verabschiedet. Kritiker wie die evangelische Kirche bemängeln, die Regelung gehe nicht weit genug...
Maria Böhmer: Der Beschluss der Innenminister zeigt, Integration und Arbeit gehören zusammen. Von den rund 200.000 geduldeten Migranten können auch diejenigen, die bisher nicht arbeiten, aber in den nächsten Monaten ein verbindliches Arbeitsangebot nachweisen, ein Aufenthaltsrecht erhalten. Das ist ein entscheidender Schritt nach vorn. Ich wünsche mir, dass Migranten und Arbeitgeber diese Chance nutzen.
Das Parlament: Was bringt die Migration unserem Land? Wo sehen Sie positive Entwicklungen?
Maria Böhmer: Unserem Land bringt sie Farbe und Vielfalt und mildert demografische Probleme. Wir wollen das Potenzial der Migranten nutzen. Wir brauchen positive Beispiele, die Mut machen. Ich kenne einen Kreis junger Türken, die selber aus bildungsfernen Elternhäusern kommen, sich durchgekämpft und Abi-tur gemacht haben und nun anderen Kindern aus türkischen Familien helfen wollen. Sie wollen Brücken bauen. Diese Menschen können viel für die Integration bewirken. Auch den in Deutschland tätigen ausländischen Unternehmern ist bewusst, wie schlecht es um die Ausbildung von jugendlichen Migranten bestellt ist. Sie haben zugesagt, 10.000 neue Ausbildungsplätze bis zum Jahr 2010 zur Verfügung zu stellen, das bedeutet eine Steigerung von 40 Prozent. Das ist enorm! Außerdem müssen Migranten gesellschaftlich breit verankert sein, gerade in Vereinen. Die Freiwillige Feuerwehr in Frankfurt und anderswo wirbt jetzt um Jugendliche mit Migrationshintergrund. Wenn wir auf unsere Geschichte zurückblicken, ist es uns immer gelungen, Menschen zu integrieren. Egal ob es die Hugenotten waren oder die polnischen Bergleute: Letztendlich war Zuwanderung immer ein Gewinn, und das wird sie auch in der Zukunft sein.
Das Interview führte Annette Rollmann