Es war, als hätte sich plötzlich ein Starrkrampf gelöst. Am 1. Januar 2005 trat Deutschlands neues Zuwanderungsgesetz in Kraft. Es war ebenso sehr eine Absage an den naiven Multikulturalismus früherer Jahre wie an populistisch aufgeheizte Warnungen vor terroristischer Unterwanderung. Drei lange Jahre hatte man darum gerungen. Zur Disposition stand vordergründig, unter welchen Umständen Ausländer legal bei uns leben und arbeiten dürfen. Doch dahinter standen Fragen von existenzieller Bedeutung für die ganze Nation: Kann Deutschland seine stagnierende Wirtschaft und sinkende Geburtenrate durch eine erleichterte Zuwanderung wettmachen? Können wir dabei den Feinden unserer pluralistischen Gesellschaft den Zutritt verwehren - ohne diese Offenheit und Toleranz im selben Schritt preiszugeben?
Dass es je einen Durchbruch geben würde, schien lange ausgeschlossen. Zu unterschiedlich waren die Meinungen der jeweiligen Lager, zu verhärtet die Positionen. Otto Schily wollte ein Punktesystem zur Auswahl von Einwanderern nach Deutschland durchsetzen. Daneben sollte das Aufenthaltsrecht anerkannter Asylbewerber regelmäßig überprüft werden. Die Grünen forderten, nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen. Die CDU warf der rot-grünen Koalition vor, Zuwanderung nach Deutschland fördern zu wollen und konterte mit einem Gegenentwurf, mit Schwerpunkt auf den Worten "steuern" und "begrenzen". Kirchen und Menschenrechtsorganisationen liefen Sturm gegen den mangelnden Schutz von Flüchtlingen. Und um das Nachzugsalter von Kindern stritten alle.
Dann kam der 11. September 2001. Mehrere der Attentäter waren als Studenten nach Deutschland gekommen. Auf einmal wurde aus der Chance Zuwanderung eine Gefahr für die innere Sicherheit. In der Folge wurde die Vorlage der rot-grünen Koalition auf Druck der CDU drastisch verschärft, etwa durch stärkere Sicherheitsprüfungen für Visumantragsteller. Im Rahmen des Sicherheitspakets wurden diese Regelungen vorgezogen. Unter anderem sollten nicht nur Helfer und Helfershelfer von Terroristen, sondern auch Sympathisanten ("geistige Brandstifter") unter erleichterten Bedingungen abgeschoben werden können. In den Gesetzentwurf ist, wie der saarländische Ministerpräsident Peter Müller es ausdrückte, "sehr viel Schwarz hinein- und sehr viel Grün hinausgekommen". Doch vor dem Szenario der Bedrohung wurde das Gesetz jetzt plötzlich konsensfähig.
Mit dem neuen Gesetz wurde der zuvor geflissentlich ignorierten empirischen Tatsache politisch Rechnung getragen, dass seit den 50er-Jahren mehr als 30 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen sind und mehr als 22 Millionen es wieder verlassen haben. Steuerung statt Scheuklappen, das ist immerhin ein Anfang. Damit nicht genug: Es stellt sogar fest, dass Zuwanderung im nationalen Interesse Deutschlands ist, aus wirtschaftlichen Gründen. Andere Nationen, etwa Kanada und die USA, haben das schon früher entdeckt, so dass wir uns um die besten Köpfe durchaus Mühe geben müssen. Das heißt: Wir müssen auch etwas tun, damit sie sich für uns entscheiden.
Ein erster Schritt bestand im Abbau von Bürokratie, es wurde eine Schneise durch das Dickicht der Verfahrensregelungen geschlagen. Wo es früher fünf verschiedene Formen der Aufenthaltsgenehmigung gab, stehen heute zwei zur Verfügung: die (befristete) Arbeitserlaubnis und die (unbefristete) Niederlassungserlaubnis. Ganz besonders wichtig: In beiden Fällen ist die Aufenthaltsgenehmigung mit einer Arbeitserlaubnis verbunden. Für Zuwanderer ist das eine ungeheure Erleichterung: Es gibt nur noch einen Behördengang (auf Neu-Deutsch nennt sich dies "One-Stop-Government").
Nicht gelungen ist es dagegen, die so dringend gebrauchten hochqualifizierten Zuwanderer nach Deutschland zu holen. Dabei würden sie nach dem neuen Gesetz sofort eine Niederlassungserlaubnis bekommen, da wir an ihnen ein "besonderes wirtschaftliches und gesellschaftliches Interesse" haben. Ein Rätsel? Nicht wirklich. Wer die Lösung sucht, muss nur die gesetzliche Definition dieser besonders privilegierten Kategorie lesen: Gesucht werden herausragende Wissenschaftler, Lehrpersonen und andere Spezialis-ten, die ein Jahresgehalt von mindestens 84.000 Euro beziehen. Das Bundesinnenministerium hat seine Zuwanderungsstatistiken durchforstet und festgestellt: Nach diesen Kriterien hatten im Jahr 2005 höchstens 700 bis 900 Hochqualifizierte eine Niederlassungserlaubnis erhalten. Und das bei 600.000 ausländischen Zuzüglern im vorvergangenen Jahr insgesamt. Kein Wunder - bei einem Jahresgehalt in dieser Höhe würden viele Hochqualifizierte in Ländern der Dritten Welt gar nicht erst auswandern. Die "Green Card" seligen Angedenkens schließlich, vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder als Innovation angepriesen, die einen geradezu magnetischen Sog auf Informatik-Fachkräfte (im Volksmund: "Computer-Inder") ausüben würde, führte 2004 gerade 2.273 IT-Fachkräfte nach Deutschland. Das war weit weniger als das vorgesehene Kontingent.
Auch Selbstständigen hält das Gesetz die Tür nur halb auf. Sie können eine Aufenthaltserlaubnis bekommen - aber nur, wenn sie mindestens eine Million Euro in Deutschland investieren und mindestens zehn neue Arbeitsplätze schaffen. Wäre es nicht eine Spur bescheidener gegangen? Immerhin hat das Zuwanderungsgesetz auch eine kleine Revolution angezettelt: Es gibt jetzt ein gesetzlich verankertes Recht auf Integrationshilfe in Deutschland. Nicht nur das, manche Zuwanderer werden sogar dazu verpflichtet, es in Anspruch zu nehmen. Zur Koordinierung wurde eine Behörde geschaffen, die in ihrem Namen das Wort "Migration" trägt - das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg. Ein Tabu war gebrochen.
Zuwanderer müssen demnach neuerdings einen Integrationskurs besuchen. Unsere niederländischen Nachbarn haben uns vorgemacht, wie das geht: 600 Stunden Sprachkurs, gefolgt von 30 Stunden Orientierungskurs, sollen Neuzuwanderern die nötige Starthilfe geben. Es sei denn, sie haben einen "erkennbar geringen Integrationsbedarf", will sagen: Es ist klar, dass sie es auch allein schaffen. Wer berechtigt ist und überdies "in sonstiger Weise integrationsbedürftig", ist zur Teilnahme verpflichtet. Wer nicht zur Prüfung geht, dem drohen Leistungskürzungen und die Aufenthaltserlaubnis wird nicht verlängert.
Das funktioniert. Die Zuwanderer wollen Deutsch lernen. Erste Erfahrungen mit den Integrationskursen hierzulande zeigen: Die Nachfrage ist groß. Bundesweit wurden 2005 rund 8.200 Kurse angeboten, für die der Bund 208 Millionen Euro zur Verfügung stellte. Von mehr als 215.000 Teilnehmern hat fast die Hälfte das Angebot freiwillig angenommen. Klar ist noch nicht, ob dies ausreicht: Sind die Kurse differenziert genug, macht das Lehrpersonal einen guten Job? Dies wird gerade evaluiert.
Das Zuwanderungsgesetz mit allen seinen Schwächen hat also etwas bewegt in Deutschland. Wir improvisieren nicht mehr nur pragmatisch. Deutschland ist noch kein modernes Einwanderungsland - aber es wird gerade dazu. Nur eine Frage konnte das Gesetz von 2005 nicht abschließend klären: Wer sind "wir"? Daran arbeiten wir noch.
Dr. Tanja Wunderlich ist Program Officer Immigration and Integration beim German Marshall Fund of the United States.