Europe on the Move", wie die bedeutendeste, schon kurz nach Kriegsende vorgelegte Untersuchung von Eugene M. Kulischer zu diesem Thema heißt, ist so etwas wie graue Vorzeit des heutigen Europa, den heute Lebenden kaum bewusst und im kollektiven Gedächtnis der mittleren und jüngeren Generation kaum gegenwärtig.
Es gibt kaum eine europäische Nation, die nicht davon betroffen gewesen wäre. Fast alle Völker Europas sind auf der Liste von Flucht, Umsiedlung, Vertreibung und Forced Displacement: die Finnen, die Esten, Letten und Litauer, die Ukrainer, die kaukasischen Völker, die Russen, die Türken und Griechen, die Bulgaren und Serben, die Italiener und Österreicher, die Slowenen und die Kroaten und viele so genannte kleine Völker. Mit mehr als zwölf Millionen aus dem östlichen Europa und aus den Ostprovinzen des Deutschen Reiches Vertriebenen stellen die Deutschen eine besonders große Gruppe innerhalb des europäischen Vertreibungsgeschehens.
Trotz der eindeutigen Europäizität dieser Gewalterfahrung gibt es eine europäische Öffentlichkeit und einen europäischen Diskurs zum Vertreibungs- und Umsiedlungskomplex erst in Ansätzen. Man hat es hier offensichtlich nicht allein mit der Folge einer fast natürlich zu nennenden Beschränktheit auf die je eigene Erfahrung zu tun, sondern auch mit einem konzeptionellen Problem: Wie bringt man die ineinanderergreifende und sich radikalisierte "Entmischung Europas" in einer großen Erzählung zusammen? Wie bringt man das je besondere individuelle Schicksal und die je besondere nationale Erzählung zusammen mit dem fast unüberschaubaren Großgeschehen, mit Ursachen und Wirkungen?
Die Erfahrung der Umsiedlung und Vertreibung war fast immer Teil der tagespolitischen und parteipolitischen Auseinandersetzung und ist es zum Teil immer noch. Das Vertreibungsgeschehen ist uns immer noch nah: Es reicht in vielfältiger Weise in die Lebenserfahrung der heute Lebenden hinein. Es ist nicht Babylon, nicht Ninive, nicht Rom. Die Instrumentalisierung für den Parteienkampf, die Benutzung der Vergangenheit für die Auseinandersetzungen in der Gegenwart, die Desavouierung von politischen Gegnern mit Hinweisen auf die Vergangenheit und umgekehrt - all das ist bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich.
In Deutschland kann man dies sehr klar zeigen. Noch bevor die Erforschung der deutschen Verbrechen in Gang kam, gab es bereits das erste Großforschungsprojekt zur Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa - es brauchte zwei Jahrzehnte, bis der Holocaust überhaupt zu einem ernsthaften Thema wurde. Und umgekehrt: In den 70er- und 80er-Jahren verschwanden die mit der Vertreibung der Deutschen verbundenen Themen fast vollständig aus der Geschichtswissenschaft und öffentlichen Aufmerksamkeit.
Der Zusammenhang zwischen Kaltem Krieg und Flüchtlingsforschung einerseits, zwischen Neuer Ostpolitik und Verstummen der Flüchtlingsthematik ist offensichtlich. 1989 und die Wiedervereinigung Europas berechtigten zu der Hoffnung, dass mit dieser vordergründigen Instrumentalisierung, die auch mit einer eigentümlichen Moralisierung und Ideologisierung einherging, endlich Schluss sein könnte, dass die Europäer genug haben könnten von Aufrechnungen und Abrechnungen, weil es etwas Wichtigeres gibt: sich zu vergegenwärtigen, wie Europa geworden ist, was es heute ist.
Das Europa, in dem wir heute leben, ist aus dem Tumult des vergangenen Jahrhunderts hervorgegangen. Und wenn wir verstehen wollen, wer wir heute sind, dann müssen wir uns umsehen, wie wir das geworden sind. Das betrifft so ziemlich alles: die Grenzen, die einmal anders verliefen; die Städte, in denen einmal andere Bevölkerungen und Bevölkerungsgruppen gelebt haben; Regionen, in denen andere Sprachen gesprochen wurden. Wer über Europa heute sprechen will, muss von den Gemengelagen, aus denen es sich einmal zusammengesetzt hatte, sprechen. Dies alles ist nicht die Sache von schönen Willens- und Absichtserklärungen, sondern ob die Europäer reif geworden sind, sich die Erzählungen von dem, was sie sich angetan haben, zuzumuten, ob sie in der Lage sind, für ihre Erfahrungen eine Sprache zu finden, die die andere Seite immer mitdenkt?
Was heißt es, sich in den europäischen Vertreibungszusammenhang hineinzudenken? Man versteht von den epochalen Völkerverschiebungen nichts, wenn man nicht die mobilisierende, polarisierende, radikalisierende und vereinfachende Rolle von Krieg und Kriegführung in Rechnung stellt. Man versteht nichts, solange man nicht die Ideen der Meisterdenker der Moderne mitdenkt: also die säkulare Tendenz, die offensichtlich dem Umsiedlungs- und Vertreibungsvorgang innewohnt, die ethnische Homogenisierung des modernen Nationalstaates als Programm und die "ethnische Säuberung" als Methode von "ethnic und social engineering" im großen Stil. Man wird ohne die Rolle, die Bürokratie und totalitäre Bewegung bei Massenbewegungen in vergangenen Jahrhundert spielten, nicht weiterkommen, und man wird ohne die Erfahrungen rassistischer Herrschaft und Verwaltung an der Peripherie der kolonialen und imperialen Welt wenig verstehen. Zwangsmigration hat etwas mit pathologischen Veränderungen demografischer Abläufe, mit der Störung der Kontinuität und Diskontinuität der generationellen Abfolgen zu tun. Umsiedlung und Vertreibung zerstört uralte Siedlungsgebiete, Kulturlandschaften, Städte, Dörfer und schafft neue Gemengelagen.
Überall in Europa kann man die Spuren des Geschehens lesen. Die Formen, in denen die Erfahrung des Verlustes und der Entwurzelung sich niederschlagen, sind vielfältig und keineswegs nur an Texte und Interviews, Tagebücher und Photos gebunden, sondern auch an Küchenrezepte, Feiertage, Gedenktage, Pilgerfahrten, Treffen, Folklore, die Weitergabe innerhalb der Familie, der Heimattourismus, das Buchwesen, Filme, die Benennung von Straßen und Plätzen in den neuen Heimaten. Gerade nichtschriftliche Formen belegen die außerordentliche Vitalität dieser abgesunkenen Erfahrung. Das ist bisher nur selten Gegenstand der Flüchtlingsforschung geworden. Man findet diese Spuren und diese Formen der Spurensuche grenzüberschreitend: in Polen, Deutschland, im Baltikum, in der Ukraine, bei den Krimtataren, bei den Balkantürken.
Die Vergegenwärtigung der verlorenen Heimat ist eines der stärksten Motive und Identifikationspunkt von Flüchtlingsgemeinden. Es existieren Heimaten im Kopf und Topographien des Verlustes. Auch hier handelt es sich um eine transnationale europäische Praxis. Die Bildbände in Deutschland, in denen der verlorene Osten "jenseits von Oder und Neiße" dargestellt werden, unterscheiden sich typologisch nur wenig von den Bildbänden in Polen, die die verlorene Welt der "kresy" - der ehemaligen polnischen Ostgebiete - zum Gegenstand haben. Es ist die Typologie der "heilen Welt" vor der Zerstörung und der Blick auf die leer gefegte Landschaft - manchmal auch die Versöhnung mit der durch andere neu angeeigneten Welt. An diese nicht verlorenen Bildern knüpft auch das neue Europa unweigerlich an.
Die Erfahrung der Entwurzelung und des Heimatverlustes spitzt sich in besonders dramatischen Bildern zu: Bilder der Gewaltsamkeit, der verbrannten Erde, des Untergangs, des Überlebens, der Flucht. Es gibt so etwas wie einen gesamteuropäischen Bildervorrat und europäische lieux de memoire: Viehwaggons für die Deportation, die Beschlagnahmungs- und Ausweisungskommandos, erreichte Grenzen und Übergangsstellen, die Evakuierungsschiffe, die Marschkolonnen, die Fluchtbrücken, die Brutalität des Deportationsvorgangs, die Selektion und die Ausgrenzungsmechanismen, die Zeichnung durch Armbinden, die Flüchtlingstrecks vor allem, die Barackenlager und Zeltstädte; auch Orte der Gräuel und des Schocks. Solche Bilder sind Bestandteile des traumatisierten individuellen wie nationalen Gedächtnisses: die Trecks auf dem Eis des Frischen Haffs, die Deportationszüge nach Kasachstan, die Friedhöfe der katholischen Litauer bei Igarka und viele andere.
Die Bewirtschaftung des historischen Bewusstseins und der Kampf um kulturelle Hegemonie ist ein eminent politischer Vorgang. Die Frage ist nicht, ob, sondern wie eine Öffentlichkeit damit umgeht: taktvoll und sensibel oder taktlos und verletzend, aufmerksam und anteilnehmend oder gleichgültig und vielleicht sogar herzlos, polemisch oder so sachlich wie möglich. Gerade die Auseinandersetzungen in Deutschland und Polen in den vergangenen Jahren zeigen, dass es nicht um das Ob des Gedenkens, sondern um das Wie geht. Und vieles spricht dafür, dass Gesellschaften weiter sein können als politische Eliten, Funktionärskörper oder Lobbyorganisationen. Nichts ist einfacher im politischen Betrieb als die Skandalisierung, und nichts ist schwieriger als Gelassenheit und Zuhören können. Aber erst wer zuhört, kann auch die eigene Geschichte zu Gehör bringen. Es ist immer der Ton, der die Musik macht.
Professor Karl Schlögel lehrt osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.