Nouripour ist einer von elf Abgeordneten mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag. In den Reihen der Grünen im Parlament sitzen neben Nouripour die türkischstämmige Ekin Deligöz, die im Herbst muslimische Frauen in Deutschland zum Ablegen des Kopftuchs aufgefordert hatte, und der migrationspolitische Sprecher der Fraktion, Josef Philip Winkler. Winklers Mutter stammt aus dem indischen Bundesstaat Kerala. Er selbst ist Katholik und wurde 1974 in Koblenz geboren. Ebenfalls zu den Migranten zählen muss man Jerzy Montag, der als Zehnjähriger mit seinen Eltern 1957 seine polnische Heimatstadt Kattowitz verließ und dann in Mannheim zur Schule ging. Er ist rechtspolitischer Sprecher der grünen Fraktion.
Omid Nouripour kam hingegen erst mit 13 Jahren mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Deutschland. Viele Jahre war er zusammen mit der jüngsten Bundestagsabgeordneten, Anna Lührmann, Sprecher der Grünen Jugend in Hessen. Erst vor kurzem zog er als Nachfolger von Joschka Fischer in den Bundestag ein und ist nun Mitglied im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und im Rechtsausschuss. Obwohl Nouripour über sich sagt, dass er der "fleischgewordene Erfolg der Gesetzesnovellierung zum Staatbürgerschaftsrecht" sei und obwohl er seit 2002 den deutschen Pass besitzt, ist er sich seiner Wurzeln durchaus bewusst. Als er kürzlich eine Werbung mit dem Slogan "unbegrenzte Redefreiheit" sah, dachte er sofort, es ginge um eine Kam-pagne der UNESCO oder einer anderen politischen Organisation. Später kam heraus, dass es sich um Werbung für eine "Flatrate" für Mobiltelefone handelte. "Alle anderen haben gelacht. Ich war unangenehm berührt", erzählt Nouripour und erklärt das Gefühl damit, dass er aus einem Land kommt, das eben keine Redefreiheit kennt. Der andere Erfahrungshintergrund bringt bei Nouripour wie auch bei seinen Kollegen mit Migrationserfahrung andere Sensibilitäten mit sich. "Ich glaube, dass viel zu viele Politiker sehr ritualisiert mit der Rechtsstaatlichkeit umgehen", beobachtet Nouripour. "Sie machen sich die Errungenschaften der Demokratie oft nicht wirklich bewusst."
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün, Sprecherin der Arbeitsgruppe "Migration und Integration", beschreibt die Erfahrung des Andersseins an einem Beispiel. Ein befreundeter Politiker wies eine Besuchergruppe auf die zufällig vorbei kommende Akgün mit den Worten hin: "Und hier stelle ich Ihnen meine exotischste Kollegin vor." Die 53-Jährige aber fragt sich etwas verwundert: "Was bitte ist an mir, einer nicht mehr ganz jungen Frau mit Kurzhaarschnitt, exotisch? Nichts." Auch würde es sie immer wieder befremden, wenn andere Bundestagsabgeordnete den türkischen Staatspräsidenten ihr gegenüber als "dein Präsident" bezeichnen. Akgün ist wie alle anderen Bundestagsabgeordneten deutsche Staatsbürgerin - sonst könnte sie gar nicht gewählt werden.
Während die Muslime im Deutschen Bundestag immerhin durch fünf Parlamentarier vertreten sind, hat die 2,5 Millionen große Gruppe der Aussiedler keinen Abgeordneten im Deutschen Bundestag sitzen.
Wie viele Migranten haben auch die Familien der Abgeordneten oft komplizierte Lebensgeschichten hinter sich. Manche haben aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen, andere wie die Familie von Nouripour aus politischen. Als seine Familie 1988 auswanderte, um dem Mullah-Regime zu entkommen, war der erste Golfkrieg gerade einmal sieben Tage vorbei. "Ich habe unglaubliche Dinge gesehen. Als Klassenfahrt sind wir an die Front gefahren", erinnert er sich. Auf dem deutschen Schulhof, der für ihn neue Heimat werden sollte, hat sich erst mal kein Mitschüler für diese Erfahrung interessiert. Nun hat Omid Nouripour mit seiner Doktorarbeit ein interkulturelles Zeugnis abgelegt. Das Thema: "Der Heimatbegriff in der deutschen Literatur von nicht Deutschstämmigen." Farsi bezeichnet er als seine Muttersprache, Deutsch als seine Heimatsprache.
Nouripours Familie erfuhr in Deutschland einen sozialen Abstieg. Die Eltern waren in Teheran Ingenieure der zivilen Luftfahrt. In Deutschland verkaufte die Mutter Schmuck in einem großen Kaufhaus auf der Frankfurter Zeil. Der Vater arbeitete als Lastwagenfahrer bei einer Spedition. "Jahrelang hatte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber meinen Eltern", erzählt Nouripour. Denn die Heimat hatten sie vor allem verlassen, um den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.
Der kroatischstämmige SPD-Bundestagsabgeordnete Josip Juratovic kam erst 1974 als Jugendlicher nach Deutschland. Er ist neben seinem indischstämmigen Fraktionskollegen und Vorsitzenden des Innenausschusses, Sebastian Edathy, und der bis zum neunten Lebensjahr in Istanbul aufgewachsenen Akgün einer von drei SPD-Parlamentariern mit Migrationshintergrund.
Der damals 15-jährige Juratovic nahm schon drei Wochen nach seiner Ankunft an einem Zeltlager des Deutschen Roten Kreuzes im Schwarzwald teil. "Da war ich von einem Moment zum andern total drin", erinnert sich der Abgeordnete, der, obwohl er den jugoslawischen Hauptschulabschluss schon in der Tasche hatte, dann noch mal zwei Jahre die deutsche Schulbank drückte und die achte und neunte Klasse nachmachte. Schließlich schloss er seine Ausbildung mit einer Kfz-Mechanikerlehre ab, stand dann sieben Jahre bei Audi am Fließband, kam in die Qualitätssicherung, wurde Betriebsrat. Nebenbei hat er den SPD-Ortsverein in Gundelsheim mitaufgebaut. "Wenn man eigene Themen hat, wird man auch nicht ständig als Migrant wahrgenommen", ist seine Erfahrung. Im Bundestag, in dem er seit 2005 für den Wahlkreis Heilbronn sitzt, kümmert er sich vor allem um Europafragen. Für ihn gelingt Migration dann, "wenn ein Wille auf beiden Seiten da ist".
In gewisser Weise haben alle Abgeordneten nicht-deutscher Herkunft eine Bilderbuchkarriere für gelungene Migration hingelegt. Sie waren fleißig, sie lernten die Sprache, gingen in Vereine und wollten das neue Land zu ihrer Heimat machen, ohne ihre Wurzeln zu verleugnen.
Dieses Gefühl beschreibt auch Hakki Keskin. Der 63-Jährige zog erst 2005 in den Bundestag ein und war bis dahin Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Von 1993 bis 1997 saß er für die SPD in der Hamburger Bürgerschaft. Der Professor für Politik und Migrationspolitik sieht sich in einer Brückenfunktion zwischen der Türkei und Deutschland.
Nach dem Abitur in der Türkei ging Keskin nach Deutschland, studierte und promovierte und kehrte von 1978 bis 1980 für zwei Jahre als Planungsberater im Stab des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit in die Türkei zurück. In der Linksfraktion sitzt außer ihm noch Hüseyin Kenan Aydin, der bis zu seinem Einzug in den Bundestag 2005 im Vorstand der WASG war und ebenfalls aus der Türkei stammt. In Duisburg geboren und aufgewachsen ist die türkischstämmige Sevim Dagdelen. Sie ist integrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion.
Keskin hofft, dass die elf Abgeordneten im Bundestag mit Migrationshintergrund nur den Anfang bilden und in Zukunft mehr Migranten in das Parlament gewählt werden: "Denn die Repräsentation von Migranten gehört zu der faktisch vollzogenen Realität des Landes", findet der Professor. Außerdem glaubt er, dass man dem Land mit Menschen, die eine zweite Kultur neben der deutschen gut kennen, sehr nützen kann. "Wir sind ja in gewisser Weise Experten."
Auch Michaela Noll, die einzige Abgeordnete der Union mit Migrationshintergrund, schätzt den internationalen Hintergrund ihrer Familie. Ihr Vater stammte aus dem Iran. Ihre Mutter ist Deutsche. Obwohl Michaela Noll in Deutschland geboren und wie die meisten ihrer Geschwister auch hier aufgewachsen ist, lebt ein Großteil der Familie heute in aller Welt verstreut. Eine Schwes-ter ist in Australien, die andere in Frankreich verheiratet. Ein Bruder verbringt seinen Ruhestand mit seiner österreichischen Frau in Graz, ein anderer arbeitet in den Vereinigten Arabischen Emiraten in Dubai. Die ältesten Halbgeschwister leben nach wie vor im Iran. "Wenn man in so einer Familie aufwächst, ist man insgesamt weltoffener", sagt sie.
Noll beschäftigt sich auch als Bundestagsabgeordnete ständig mit der Herausforderung der Integration. In ihrem Wahlkreis Mettmann Süd in Nordrhein-Westfalen gibt es Städte, in denen zwei Drittel der Bürger einen Migrationshintergrund haben. Die CDU-Politikerin setzt sich vor allem für Sport als integrationsfördernde Maßnahme ein. "Die erreicht die Jugendlichen spielerisch und ohne erhobenen Zeigefinger."
In der FDP gibt es keinen Bundestagsabgeordneten mit Migrationshintergrund. Im Europaparlament allerdings vertritt der griechischstämmige Abgeordnete Jorgo Chatzimarkakis die Liberalen.
Intensiver als viele andere Bundestagsabgeordnete beobachten die Parlamentarier mit Migrationshintergrund die Kollegen in den anderen Fraktionen, die nicht deutscher Herkunft sind. Warum die FDP keinen Migranten in den Bundestag entsandt hat und Michaela Noll die einzige Abgeordnete in der Union mit Migrationshintergrund ist, wundert die Kollegen, die im Ausland geboren wurden und heute deutsche Volksvertreter sind. Der grüne Politiker Nouripour würde lieber mit einem anderen Gesamtbild konfrontiert sein.
Die Herausforderung nimmt er sportlich: "Ich wünsche mir, dass gerade in der großen Volkspartei CDU mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund wären. Die Grünen hätten dann die Aufgabe, der Union die Stimmen abzujagen." Und vielleicht würde eine solche Konkurrenz nicht nur die Belange von Migranten voranbringen, sondern den gesamten politischen Betrieb beleben.