Zwei Frauen mit Kopftüchern kommen schwer bepackt mit Taschen aus einem Waschsalon, unweit entfernt verdrückt sich eine Gruppe junger Männer mit Halsketten und Lederjacken in ein Wettbüro. Blinde Schaufenster wirken, als hätte dahinter seit langem kein Leben mehr stattgefunden.
Über die Konrad-Adenauer-Straße, die Hauptstraße Solingens, fließt der Verkehr von der Nordstadt in die Innenstadt vierspurig. Tag und Nacht. Auf dem Gehweg liegen Reste von Dönerpapier und weggeworfenen Zigarettenstummeln. Die Straße scheint fest in türkischer Hand zu sein. Es ist kein Ort, an dem sich Normalbürger, Auswärtige, Müßiggänger gerne aufhalten. Solingen hat den Wettbewerb des Bundesinnenministeriums und der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2005 - "Erfolgreiche Integration ist kein Zufall" - gewiss nicht wegen dieser Meile gewonnen.
Die Nordstadt hat den höchsten Ausländeranteil überhaupt im Stadtgebiet. Knapp jeder Dritte, der hier wohnt, ist ein Zuwanderer. Das sind etwa doppelt so viele Migranten wie sonst in Solingen. Gleiches gilt für die Arbeitslosigkeit, die unter den Ausländern in Solingen bei knapp 20 Prozent liegt. In der Nordstadt aber sind fast 40 Prozent der Nichtdeutschen ohne Arbeit.
Dabei sind Wohnen und Arbeit zwei der fünf Schwerpunkte des interkulturellen Gesamtkonzeptes der Stadt vom November 2001, "Vision Zusammenleben 2010", das die Basis des Wettbewerbstriumphs in der Kategorie Mittelstadt bildete. Dieses Konzept setzt auf Beteiligung der Zuwanderer, darauf, dass sie ihre Wünsche und Interessen äußern. Entsprechend ist das Konzept selbst schon Ergebnis einer Gemeinschaftsarbeit. Die Umsetzungsgruppe besteht aus 20 Vertretern der Verwaltung und Migrationsorganisationen und tagt etwa alle vier bis sechs Wochen.
164.000 Einwohner, 24.000 Ausländer aus 130 Nationen - Solingen, im Bergischen Land zwischen Rhein und Ruhrgebiet gelegen, ist neben Wuppertal und Remscheid Teil der bergischen Tripolis. Die ersten Gastarbeiter kamen in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre während der Adenauer-Hochphase in die Stadt, deren Klingen- und Stahlproduktion damals noch stark expandierte. Solingen war die erste Kommune in der Bundesrepublik, die 1975 einen Ausländerbeirat gründete.
Damals Avantgarde, heute Avantgarde - läge dazwischen nicht Pfingsten 1993. Der finstere ausländerfeindliche Start des vereinten Deutschlands ist mit vier Städten verbunden: Hoyerswerda 1991, Rostock 1992, Mölln 1992 und Solingen 1993. Fünf Türkinnen zwischen vier und 27 Jahren verbrannten in ihrem Haus, das vier junge Solinger aus der Nachbarschaft mit Benzin angezündet hatten. In der Häuserreihe an der Unteren Wernerstraße klafft eine Lücke, fünf Kastanien wurzeln am steilen Hang. Es wird wahrscheinlich das stärkste Mahnmal bleiben, auch wenn demnächst ein Platz in einem Neubaugebiet nach dem Heimatort der betroffenen Familie benannt werden soll. Kastanien gelten als Symbol der Hoffnung und der Versöhnung.
Die Täter kamen von nebenan. Anders als in Ros-tock, wo sie überwiegend aus dem Westen angereist waren. Vielleicht ist das der Grund, warum der nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet Wert darauf legt, dass Integration eine Nachbarschaftsaufgabe ist, wie er beim ersten landesweiten Integrationskongress in Solingen, an dem 38 Kommunen teilnahmen, erneut gesagt hat. Der Kongress soll nun jedes Jahr in Solingen stattfinden und kann als eine Art Entschädigung dafür verstanden werden, dass der CDU-Minister das Landeszentrum für Zuwanderung, das ursprünglich in Solingen eingerichtet worden war, zu sich nach Düsseldorf holte.
Laschet hob hervor, dass die Solinger nach den Morden aufeinander zugegangen seien. Die Erzieherin Fine Bordonau, die seit 20 Jahren die Hausaufgabenbetreuung der Caritas für Ausländer im Haus der Begegnung leitet, hat da andere Erinnerungen. "Die ersten zwei Wochen hatte ich richtig Angst. Das war Chicago light." Die Türken im Haus hatten sich für den Fall mit Baseballschlägern bewaffnet, dass Rechtsradikale auftauchen würden. Die ständige Präsenz von Fernsehen, Radio und Presse habe die Stimmung auf einem Siedepunkt gehalten. "Da haben türkische Jungs Dinge in Kameras gesagt, die sie so nie sagen würden, nur um 50 oder 100 Mark abzukassieren." Erst nach einem halben Jahr sei es wieder zwischen Deutschen und Türken zu Annäherungen gekommen. Bordonau hat das hautnah miterlebt, weil sie den Migrantenkindern nicht nur bei den Hausaufgaben hilft, sondern ihnen für die Zeit danach auch noch anbietet, in der Zirkustruppe "Banaba" mitzuwirken. Damals sei ein Riss mitten durch die Gruppe gegangen, weil einer der Täter mit einem deutschen Mitglied befreundet war.
Zurück in die Gegenwart: Seit einem Jahr plagt sich die zwanzigköpfige Umsetzungsgruppe mit Zahlen rum - Kennzahlen, Strukturzahlen, Grundzahlen. Man möchte die Erfolge der Integrationsarbeit nicht mehr nur in schöne Worte fassen, die so oder auch anders ausgelegt werden können, sondern in der scheinbar unbestechlichen Schlagkraft absoluter Ziffern wiedergeben. Denn Zahlen gelten als Fakten, und Fakten sind die besten Argumente in der Politik. Mit dieser Mammutaufgabe - wie messe ich zum Beispiel "interkulturelle Öffnung" - steht Solingen nicht allein. Unter anderem mit Stuttgart - Wettbewerbssieger bei den Großstädten - sitzt man in einer Arbeitsgruppe, an der 20 Kommunen aus dem Bundesgebiet beteiligt sind, die sich dem trockenen Kennzahlen-Thema verschrieben hat. In Stuttgart ist Integration Chefsache. Da ist der Ausländerbeauftragte direkt dem Büro des Oberbürgermeisters beigeordnet. In Solingen gehört die Ausländerbeauftragte Anne Wehkamp zum Ressort für Soziales, Jugend und Gesundheit. Sie hält das nicht für entscheidend. "Wichtig ist, dass wir politisch und in der Verwaltungsspitze Rückendeckung haben."
So wie jetzt in Sachen Nordstadt. Über alle Parteigrenzen hinweg hat sich der Ausschuss für Stadtentwicklung einstimmig zum integrativen Handlungskonzept bekannt. Es steht unter dem Leitbild "In Vielfalt leben" und sieht nicht nur ein neues Rathaus in unmittelbarer Nähe der Konrad-Adenauer-Straße vor, sondern diese selbst soll aufgewertet werden: mehr Fußübergänge, eine andere Verkehrsführung, attraktive Geschäfte. Ein Quartiersmanager soll die Entwicklung guter nachbarschaftlicher Beziehungen im Auge haben und zwischen Bedürfnissen von Anwohnern, Eigentümern und Stadt moderieren. Auch das Haus der Begegnung soll modernisiert und den Wünschen der Nutzer besser angepasst werden. Hier haben etliche Migrantenvereine ihren regelmäßigen Treffpunkt.
Das Konzept ist binnen 18 Monaten nach intensiver Einbeziehung der Bürger dem Minister für Stadtentwicklung auf den Tisch gelegt worden, der nun über die Förderwürdigkeit im Rahmen des Programms "Soziale Stadt" entscheidet. 80 Prozent der Gelder, die bis 2011 in die Nordstadt fließen würden, kämen vom Land. Die Zeichen stehen günstig; nicht zuletzt, weil Solingen sich schon vor zehn Jahren in einem Modellprojekt ("Ausländer und Innenstadtentwicklung") mit der Nordstadt befasst hat. Manchmal scheint Solingen Avantgarde seiner selbst zu sein.
Christoph Oellers ist freier Journalist in München.