Wir reden zu Recht viel über Integration. Der Begriff "Integration" wird dabei oft benutzt, als wäre er selbsterklärend und bedürfe keiner weiteren Erläuterung. Kaum noch wird er in Frage gestellt. Und warum auch? Es klingt so einleuchtend: Integriert euch!
Was das eigentlich bedeutet, ist freilich alles andere als evident, wie wir aus unseren kontroversen Debatten um Fragebögen, Einbürgerungstests, Deutschpflicht, Bildungskanon, Leitkultur und Kopftuchverbote wissen. Wenn wir von jemandem verlangen, dass er sich integrieren soll, suggeriert das, dass wir eine ziemlich klare Idee haben, wo hinein er sich integrieren sollte. Haben wir die wirklich? Oder tun wir manchmal nur so?
Es kann aufschlussreich sein, nach den Erfahrungen zu fragen, die einen Einwanderer zum Deutschen machen. Vor zwei Jahren fragte ich einen bekannten deutsch-türkischen Schriftsteller - unterdessen hierzulande mit vielen Literaturpreisen geehrt -, wann er sich zum ersten Mal richtig als Deutscher gefühlt habe. Der Erwerb der deutschen Sprache und der Staatsbürgerschaft allein waren für ihn nicht ausschlaggebend. Die kleine Geschichte, die er erzählte, zeigt, wie paradox es zugehen kann, bis man sich in unserem Land dazugehörig fühlt: "Es war vor vielen Jahren in Holland, in der Welt vor Schengen", sagte der Schriftsteller, "als man noch die Pässe an der Grenze vorzeigen musste. Ich reiste mit meinem neuen deutschen Reisepass ein und wurde sehr unfreundlich behandelt. Ich meine gehört zu haben, dass der Grenzer irgendwas über die verdammten Moffen - ein Schimpfwort für Deutsche - zu seinem Kollegen murmelte, als er meinen Pass mit dem seltsamen türkischen Namen sah, den er nicht aussprechen konnte. Erst war ich sauer. Dann begriff ich, dass er mich nicht als Türken, sondern als Deutschen von oben herab behandelte. Da wusste ich: Jetzt gehörst Du endlich dazu."
Die Episode zeigt, dass Deutscher werden auch für Einwanderer bedeutet, mit der belasteten deutschen Vergangenheit konfrontiert zu werden.
Ob sie wollen oder nicht - auch die Migranten müssen das deutsche Geschichtsbild rezipieren, was kein konfliktfreier Prozess werden wird. Nachkriegsdeutschland hat aus der Geschichte des Nationalsozialismus die Konsequenz gezogen, wachsam gegen Antisemitismus und die Leugnung von Völkermorden zu sein. Ohne den osmanischen Völkermord an den Armeniern mit den NS-Verbrechen gleichzusetzen, bedeutet dies auch hier eine Verpflichtung, jeglicher Relativierung entgegenzutreten. Auch die besondere deutsche Beziehung zu Israel und der Kampf gegen jeglichen Antisemitismus - rechtsradikaler wie auch islamistischer und "antizionistischer" Spielart - wird Teile der muslimischen Einwanderergruppen in Konflikte stürzen. Aber der Streit muss geführt werden. Denn auch diese besonderen Selbstverpflichtungen sind Teil der deutschen Leitkultur.
Dies war freilich nicht vorrangig gemeint, als der Begriff "deutsche Leitkultur" im Jahr 2000 von Friedrich Merz in die Debatte geworfen wurde. Er wurde ein wenig vorschnell von linken und liberalen Meinungsführern abgetan. Man vermutete - nicht ganz zu Unrecht - sentimentale Deutschtümelei und den Versuch einer Hierarchisierung unserer "eingeborenen" deutschen Kultur gegenüber der Kultur der Neuankömmlinge, die als fremd und minderwertig abgetan werden sollte. Es gab zwar solche Töne: Aber unterdessen macht sich doch überparteilich das Bewusstsein breit, dass der Begriff zwar ein wenig unglücklich gewählt war, aber dennoch eine unvermeidliche Selbstverständigungsdebatte markiert, an der alle Parteien und alle politischen Lager teilnehmen müssen.
Und nicht nur alle politischen Lager, sondern auch Alteingesessene und Einwanderer. In der neueren Debatte um Leitkultur schält sich he-raus, dass damit nicht gemeint sein kann, dass Mehrheiten Minderheiten sagen, wo es langgeht. Und in diesem Zusammenhang sind besonders diejenigen unter den jüngeren Intellektuellen mit Migrationshintergrund inte-ressant, die heute mit Begriffen wie Leitkultur, Nation und Patriotismus erstaunlich unbefangen umgehen. Sie haben kein Verständnis für die deutsche Verdruckstheit in diesen Fragen, ja, sie halten sie sogar für äußerst schädlich. Die Idee einer Leitkultur, vom linksliberalen Mainstream seinerzeit schnell abgetan, wird nun gewissermaßen von den Rändern her zur Wiedervorlage eingereicht. Feridun Zaimoglu schrieb im Leitartikel der Zeit (vom 12. April 2006), man könne "stolz sein auf die deutschen Verhältnisse. Die vermeintlichen multikulturellen Musterländer wie Holland und Frankreich sind abgebrannt. Ich will Türken in Massen sehen, die deutsche Fahnen schwenken. Das wäre keineswegs eine übersteigerte patriotische Geste." Und sein Berliner Autorenkollege Zafer Zenocak forderte "Nulltoleranz" für rechtsextreme Gewalt und so genannte Ehrenmorde: "Wer für eine demokratische, freie Gesellschaft eintritt, muss einen freiheitlichen Patriotismus entwickeln."
Auch die Anwältin und Autorin Seyran Ates plädiert "für einen Begriff der Leitkultur, der den Migranten eine Vorstellung von der Gesellschaft gibt, in die sie sich integrieren". Die "Orientierung auf eine Leitkultur", so Ates in einer Publikation der Friedrich-Ebert-Stiftung, "muss vor allem den zu integrierenden Jugendlichen etwas vermitteln, worauf sie stolz sein können."
Noch pointierter formuliert es die in Ankara geborene, in Bremen aufgewachsene Gewerkschafterin Sanem Kleff in ihrem taz-Artikel "Ein Lob auf deutsche Leitkultur" (20. März 2005): "Deutschland ist ein schönes Land. Und ein gutes Einwanderungsland." Dennoch drohe heute "die Abkehr von der Idee einer gemeinsamen Leitkultur aller - der Eingeborenen, der Einwanderer und jener, die noch zu uns kommen. Es gibt Gruppen, die das Modell einer in Subkulturen geteilten Gesellschaft ohnehin bevorzugen. Zum Beispiel islamistische Gruppen, die nicht nur die pädagogischen Vorgaben des staatlichen Bildungssystems krass ablehnen und deshalb ihre Töchter vom Schwimmunterricht, dem Sexualkundeunterricht und von Klassenfahrten abmelden wollen. Skeptisch machen mich auch Multikulturalisten und Globalisierungsgegner, die eine Abkopplung von den Normen der Mehrheitsgesellschaft als Befreiung vom Druck der dominierenden Ordnung feiern. Und schließlich sind mir feminis-tisch verbrämte Argumente, die Toleranz gegenüber Lehrerinnen und Schülerinnen mit Burka einfordern, ein Gräuel. Denn eine Leitkultur besteht nicht aus einem fest zementierten Kanon, sondern muss zu jedem Zeitpunkt neu verhandelt werden. Heute eben auch mit uns, den Eingewanderten. Die Idee der Chancengleichheit und einer Leitkultur muss verteidigt werden: Es ist unser Land."
Wer diese neuen Stimmen in der Berliner Republik zur Kenntnis nimmt, wird erkennen, dass die Opposition von Multikulti gegen Leitkultur eine Scheinalternative ist. Gerade eine de facto multikulturelle Gesellschaft wie unsere braucht eine Leitkultur. Es geht da-rum, die neue innere Vielfalt dieses Landes - in kultureller, ethnischer und religiöser Hinsicht - anzuerkennen und mit ihr leben zu lernen, ohne dabei in Werte-Relativismus abzugleiten. Eine republikanische Leitkultur kann nicht diktiert werden, sondern muss, wie Sanem Kleff treffend sagt, "immer wieder neu ausgehandelt werden". Wir stecken bereits mitten drin. Unsere derzeitigen Debatten im Umfeld von Integration und Migration sind Teil dieser Verhandlungen. Dass "Integration keine Einbahnstraße" ist, bedeutet, dass sich mit den Einwanderern auch die aufnehmende Gesellschaft verändert.
Unsere Leitkultur ist kein Reich der ewigen Werte. Sie verändert sich, indem wir sie im demokratischen Streit neu definieren. Sie bedeutet Lernprozesse auf allen Seiten: Deutschkenntnisse gelten heute auch für Grüne als Basis des gesellschaftlichen Zusammenhalts, und verpflichtende Sprachkurse werden nicht mehr als "Zwangsgermanisierung" verunglimpft. Christdemokraten haben sich angesichts problematischer Einstellungen mancher Muslime zu Homosexuellen und zu Frauenrechten die Anliegen von Feministinnen und Schwulenverbänden zu eigen gemacht. Die Konfrontation mit einem erstarkenden Islam, der in Moscheebauprojekten sein Selbstbewusstsein in die deutschen Städte trägt, zwingt schließlich allen Teilen der deutschen Gesellschaft die Rückbesinnung auf die religiösen Wurzeln der säkularen Ordnung der Bundesrepublik auf: Wie säkular wollen wir unseren Staat haben? Ist uns das Kopftuchverbot so wichtig, dass wir nötigenfalls auch die Kippa und den Nonnenhabit aus den Schulen verbannen? Gehen wir am Ende den französischen und türkischen Weg des strikten Laizismus? Oder setzen wir darauf, den Islam in das bewährte Institutionengefüge des deutschen Religionsverfassungsrechts einzubinden?
Das sind offene Debatten, an deren Ende, wenn wir Glück haben, eine neue deutsche Leitkultur stehen wird. Endgültig fertig wird sie dabei nicht: "Integration ist keine Einbahnstraße", hat der Philosoph Jürgen Habermas kürzlich gesagt: Sie versetzt, wenn sie gelingt, die starken nationalen Kulturen so in Schwingung, dass diese gleichzeitig nach innen und nach außen poröser, aufnahmefähiger und sensibler werden. Für die Eingewanderten und ihre Erben muss allerdings - wenn die Sache gut gehen soll - das Gleiche gelten.