Die Ausfallstraße nach Osten will nicht enden. Sie ist gesäumt von Plattenbauten, die fast an die Wolken reichen. Dazwischen Freiflächen mit jenem Stadtgrün, das dreckig wirkt. Doch dann ändert sich das Bild: Eine alte, großzügige Villa erscheint am Straßenrand, davor ein weißer Löwe aus marmorähnlichem Material, eingebettet in einen asiatischen Steingarten. Thang Long ist der Name des Hotels, einem erst im vergangenen Winter eröffneten Haus mit 42 Zimmern, alle mit Rattanbetten und Korbmöbeln eingerichtet. Im Restaurant schwimmen Fische im Aquarium, der Granitboden glänzt. Es ist die ehemalige vietnamesische Botschaft, die der Besitzer Vo Van Long vollkommen entkernt und zu einer kleinen Oase umgebaut hat.
Hier in Berlin-Karlshorst wohnen viele Vietnamesen, die schon zu DDR-Zeiten gekommen sind. "Deswegen habe ich das Hotel hier eröffnet und nicht im schicken Bezirk Mitte", sagt der Geschäftsmann, der auch die größte vietnamesische Fastfood-Kette in Deutschland besitzt. In vielen Einkaufszentren gibt es frittierte Ente und gebratenes Gemüse von Thang Long. "Aber ich will weiter expandieren", sagt er und wirkt dabei fast scheu.
Vo Van Long hat eine typische Biografie. 1981 kam er in die DDR, um Maschinenbau zu studieren und später auch in diesem Beruf zu arbeiten. Schließlich sattelte er noch zu DDR-Zeiten auf Dolmetscher um und fing gleich nach der Wende mit einem kleinen Imbiss an. Doch dann hatte er mehr Mut und bessere Ideen als andere. Er entwickelte ein gas-tronomisches Konzept für die überall aus dem Boden schießenden Einkaufszentren. Und da die früheren DDR-Bürger Fernweh hatten, konnten sie mit kleinem Geld bei Long im Einkaufszentrum die Welt von Thaicurry und Sauer-Scharf-Suppe schmecken.
Migranten werden in der Öffentlichkeit oft als Menschen wahrgenommen, die auf Kosten des deutschen Sozialstaates leben. Und tatsächlich gibt es unter den Migranten überdurchschnittlich viele Menschen, die arbeitslos und schlecht ausgebildet sind. In der jungen Generation bleiben von ihnen 40 Prozent ohne jeglichen Berufsabschluss, nicht mal jeder Zehnte macht das Abitur. Doch es gibt auch andere Beispiele, Migranten, die nicht nur hart arbeiten, sondern die auch Arbeitsplätze schaffen. Solche wie den Hotelier und Schnellgaststättenbetreiber Vo Van Long, die Polin Lucyna Krolikowska mit ihrer Serviceagentur in Berlin oder den aus der Türkei stammenden Finanzdienstleister Dogan Gündogdu, der sein Unternehmen von Frankfurt am Main aus lenkt und mehrere Filialen in Nordrhein-Westfalen hat.
Vo Van Long hat es in den 17 Jahren seit der Wende zu einem Dutzend Schnellimbissen und einem Hotel gebracht. Damit hat der Vater von vier Kindern rund 30 Arbeitsplätze geschaffen. Doch für Long steht neben dem persönlichen Erfolg und Wohlstand noch etwas anderes im Vordergrund. "Für mich ist wichtig, dass die Deutschen unser Land kennenlernen. Je mehr Menschen bei uns essen, desto neugieriger werden sie auf Vietnam." Er wolle auch etwas gegen das Bild tun, dass die meisten Deutschen von den Vietnamesen hätten. Das sei durch die illegalen vietnamesischen Zigarettenhändler auf den Parkplätzen der Discountmärkte geprägt. Der Verdienst dieser Händler liege bei rund 20 Euro am Tag, erzählt Long und ist hin- und her gerissen zwischen Ablehnung und Mitleid.
Doch Longs Denken und Leben ist auf Erfolg ausgerichtet: Demnächst, verrät der Geschäftsmann, wolle er in die Tourismusbranche einsteigen. Dafür übe er jetzt schon mit Hilfe seines erfahrenen deutschen Hoteldirektors, wie man am besten das Booking, also die Belegung eines Hotels oder Verkehrsmittels organisiert. Long ist mit seinem Willen zum Erfolg nicht allein. Die Zahl der Selbstständigen mit Migrationshintergrund stieg seit Beginn der 90er-Jahre um 65 Prozent und liegt bei etwa 300.000. Laut einer Studie der Universität Mannheim haben sie damit rund eine Million Arbeitsplätze geschaffen, was etwa vier Prozent aller Arbeitsplätze in der Bundesrepublik entspricht. Viele Migranten machen sich über kurz oder lang selbstständig, weil sie auf dem deutschen Arbeitsmarkt oft schlechte Chancen haben oder arbeitslos sind.
Die Gruppe, die am schnellsten mit Unternehmensgründungen aufholt, sind die Polen. Neben dem Geldverdienen ist, ähnlich wie für Long, auch für Lucyna Krolikowska, eine polnischstämmige Deutsche, der interkulturelle Aspekt ihrer Arbeit wichtig. Krolikowska betreibt eine Agentur im bürgerlichen Berlin-Charlottenburg und bietet Konzepte für die Zusammenarbeit von Polen und Deutschen an. Wenn es kulturelle Differenzen gibt, vermittelt die 45-Jährige. "Polen diskutieren gerne in Anwesenheit ihrer Partner das Projekt und hinterfragen es. Sie wollen damit Transparenz signalisieren. Deutsche erleben so eine Vorgehensweise als unprofessionell", erzählt die schlanke Frau, die auch Vorsitzende des polnischen Unternehmerinnenverbandes ist und zusammen mit ihrem ebenfalls aus Polen stammenden Mann, einem Architekten, in einer Altbauwohnung lebt und arbeitet.
Lucyna Krolikowska ist in Charlottenburg in ein ganzes Netzwerk von polnischstämmigen Menschen eingebettet. Fast alle sind 1984/85 während des Kriegsrechts aus Polen weggegangen. "Es gab keine Zukunft und es gab keine Hoffnung auf Zukunft", erinnert sie sich. "Was sollte ich machen? Ich wollte nicht versauern", sagt Krolikowska, die in Krakau Theater- und Filmwissenschaften studierte. Aufgewachsen ist sie in der Hohen Tatra. "Aber schauen Sie", ist sie im nächsten Moment wieder im Berliner Kiez, "alles solche Schicksale wie meins". In den Straßen um Krolikowska herum gibt es einen polnischen Second-Hand-Laden, ein Handygeschäft, einen Kosmetiksalon. Die größte Gruppe unter den Polen machen die Handwerker aus. Aber nur sie werden im Allgemeinen von den Deutschen überhaupt als Migranten wahrgenommen. Nicht zuletzt auch, weil sie von deutschen Betrieben als starke Konkurrenz empfunden werden und in den vergangenen Jahren ein Unternehmen nach dem anderen gegründet haben. Kürzlich fragte die Bild-Zeitung sogar: "Sind Polen die fleißigeren Berliner?" Von den insgesamt 326.000 Polen in Deutschland leben allein 40.000 in der deutschen Hauptstadt. Davon ist jeder siebte ein Unternehmer.
Innerhalb der polnischen Community mischen sich diejenigen Familien, die in den 80er-Jahren Polen verlassen haben, nicht wirklich mit den in den vergangenen Jahren eingewanderten Handwerkern. Die einen gehörten zur geistigen Elite des Landes, kämpften als Oppositionelle in der Politik oder waren Studenten, während die Handwerker vor allem aus ökonomischen Gründen das Land verlassen haben und nicht zu jenem Bürgertum gehören, zu dem Krolikowska zählt. Ihre großzügige Wohnung ist die beste Visitenkarte einer bürgerlichen Kultur. Im Wohnzimmer steht ein Klavier, der hölzerne dunkle Esstisch ist auch an einem Wochentag mit einem gestickten Tischläufer und Kandelabern gedeckt. "Als kreative Ergänzung zu Deutschland bewahren wir es uns, ein wenig anders zu sein", sagt sie und wartet mit einem sanften Lächeln die Wirkung ihrer Worte ab.
Allein ein Viertel der Unternehmensgründungen in Berlin ist in den vergangenen Jahren auf Migranten zurückgegangen. Um ihnen eine bessere Hilfestellung zu gewährleisten, bietet Krolikowka zusammen mit anderen Migranten aus anderen Ländern und Kontinenten Existenzgründerseminare unter dem Titel "Wie werde ich mein eigener Chef" in Arabisch, Deutsch, Polnisch, Vietnamesisch, Russisch und Serbokroatisch an. Obwohl die Polen wirtschaftlich relativ erfolgreich sind, sind sie, anders als beispielsweise die Türken, politisch kaum vertreten. Die türkische Community wird mit ihren Verbänden von der Öffentlichkeit und der Politik viel stärker wahrgenommen. Der eine Grund ist die schiere Größe. Die Türken stellen mit 1,8 Millionen Menschen die größte Gruppe unter den Migranten dar. Hinzu kommt aber auch, dass die Migration bei den Türken oftmals nicht so reibungslos abläuft wie bei den Polen.
Meist denkt man beim typischen türkischen Migranten an den fast rund um die Uhr arbeitenden Besitzer der Dönerbude an der Ecke, den Gemüseverkäufer und an den Änderungsschneider, der unermüdlich Hosenbeine kürzt und Säume auslässt. Viele Unternehmen sind Familienbetriebe, haben höchstens einen oder zwei Angestellte. Innerhalb der türkischen Community ist es mehr als in anderen Migrantengruppen verbreitet, Betriebe von Landsleuten zu übernehmen. Laut einer Untersuchung der Schader-Stiftung geschieht dies häufig ohne große Branchenkenntnisse; viele der Kleinunternehmer müssen schnell wieder verkaufen oder gehen gleich pleite. Doch lassen sich gerade die jungen Türken durch Pech und Pannen nicht beirren. Seit den frühen 90er-Jahren hat sich die Zahl der türkischen Unternehmensgründungen auf 33.000 verdoppelt und wird, so die Erwartung des Bundeswirtschaftsministeriums, weiter steigen.
Anders als andere hat Dogan Gündogdu seinen Markteintritt solide und mit großer Kenntnis geplant. Der 39-Jährige, der in der Türkei aufgewachsen ist, hat in Nordrhein-Westfalen die TDVM gegründet, eine Finanzberatungsgesellschaft, die so genanntes Ethnobanking betreibt. Er berät vor allem Kunden aus dem eigenen Kulturkreis, weil er die Mentalität seiner Landsleute kennt. Ethnobanking, so erzählt Gündogdu, gibt es in Amerika schon lange. Weil jeder dort weiß: Ein Hispano tickt anders als ein Chinese und ein Puerto Ricaner anders als ein weißer Mittelklasse-Amerikaner.
Gündogdu hat in Istanbul Volkswirtschaft studiert und anschließend an der Elite-Universität in Barcelona einen MBA-Grad erworben. Kurz darauf gewann er bei einem Universitätswettbewerb zum Entwurf eines Businesskonzepts den ersten Preis. Mit seinem Finanzdienstleis-tungsunternehmen ist er nun höchst erfolgreich. In ers-ter Linie spricht er mit seinem Angebot seine türkischen Landsleute an, die sich genauso wenig wie viele Deutsche in der komplizierten Produktwelt von Krediten, Versicherungen und Investmentfonds zurechtfinden.
Doch Gündogdu setzt nicht nur auf türkische Mitarbeiter, die die Mehrheit in seinem Unternehmen ausmachen. Neben Italienern und Portugiesen sind von den insgesamt 70 Angestellten 15 Deutsche. Die Türken stehen für Vertrauen, erzählt Gündogdu, die deutschen Mitarbeiter stehen für Kompetenz und Fachwissen. "Das ist eine gute Mischung", sagt der Chef, der oft zwischen seinen Filialen in Frankfurt und Köln, Bochum und Mannheim sowie Istanbul hin- und her- reist. Spezielle Angebote, die für gläubige Muslime interessant sind, weil sie mit der Scharia in Einklang zu bringen sind, und als Aktienpakete Alkohol, Schweinefleisch oder Waffen ausschließen, hatte er auch im Angebot. "Da besteht aber letztlich auf dem deutsch-türkischen Markt zu wenig Interesse", erzählt er und verkauft nun lieber das, was auch ein deutscher Finanzdienstleister verkaufen würde.
Gündogdus Firma berät vor allem die türkische Mittelschicht. "Türken verdienen weniger, aber sparen viel mehr." Klar, die Sparquote sei in der dritten Generation nicht mehr ganz so hoch, aber immer noch besser als bei der deutschen Durchschnittsbevölkerung. Gündogdu bestellt in Vermögensangelegenheiten allerdings fast nie nur den Mann allein in eine seiner Niederlassungen. Es ist bei den Türken wie überall anders auch, sagt der Geschäftsmann schmunzelnd. "Der Mann redet, die Frau bleibt im Hintergrund und entscheidet."