Wer den kleinen Thai-Imbiss von Chinh Pham betritt, dem steigt unweigerlich der Duft von Zitronengras und Kokosmilch in die Nase. Auf einem kleinen Gasherd klappert der Wok, es zischt und dampft, und wenige Sekunden später zaubert Chinh seinen Kunden die Köstlichkeiten Thailands auf den Teller. Junges Szenevolk aus dem Prenzlauer Berg drängt sich, gehüllt in hypnotische Klänge, um schmale Tische, die Köpfe selig über dampfende Schüsseln gebeugt. Der Laden ist wie immer rappelvoll.
Chinh, der Chef, ist Vietnamese. Vor 20 Jahren kam er aus Saigon nach Deutschland, auf Umwegen: In einem Holzboot flohen er und sein älterer Bruder zunächst über das Südchinesische Meer nach Singapur, wie vor ihnen Hunderttausende anderer "Boat People". So nannte man die fast anderthalb Millionen Flüchtlinge, die seit Ende des Vietnamkrieges 1975 nach Südostasien und von dort aus nach Europa, Aus-tralien oder die USA geflohen waren. Was sie trieb, war die Furcht vor politischer Repression, vor den Umerziehungslagern der Kommunisten und vor unvorstellbarer Armut. Die Bilder der ausgemergelten Menschen, die in kleinen, überladenen Booten an den Küsten strandeten, gingen damals um die Welt.
Chinh, gerade 19 geworden, machte sich 1987 als einer der letzten auf die Flucht. Mitte der 80er-Jahre ebbte der Flüchtlingsstrom allmählich ab, nachdem es in Vietnam eine Wirtschaftsreform gegeben hatte und sich die internationalen Beziehungen entspannten. Für die Flüchtlinge wurde es immer schwieriger, im Ausland Asyl zu finden. Chinh und sein Bruder harrten in Singapur vier Monate in einem Flüchtlingsheim aus, bevor Deutschland sie aufnahm. Sie lernten dort etwas Deutsch, dann flog man sie in ihre neue Heimat - zunächst nach Oberhausen, später zogen die Brüder nach Berlin.
Über die Flucht will Chinh heute nicht mehr reden. Das alles sei lange her, sagt er nur, in seinem etwas holprigen, noch immer schwer verständlichen Deutsch. Natürlich sei es gefährlich gewesen, ja, aber er war jung und habe sich keine Gedanken darüber gemacht. "Ich wollte nur weg." Als er in Deutschland ankam, diesem kalten, fremden Land, sei er froh gewesen, dass er es bis hierhin geschafft hatte.
Wie man thailändisch kocht, hat er in Berlin gelernt. Er hat eine Lehre gemacht, danach einige Restaurants eröffnet und sie bald wieder schließen müssen. Heute führt er mit einem Partner zusammen zwei Läden mitten im Szenebezirk, kleine gemütliche Wok-Küchen mit original thailändischem Essen. Vor einem Jahr haben die beiden auch ein Restaurant in Prenzlauer Berg aufgemacht und im November eines in Charlottenburg - das Geschäft läuft bestens. Doch an Chinh geht der Stress nicht spurlos vorüber. Er klagt über Kopfschmerzen, ist nur noch müde. "Zu viel Arbeit", sagt er und bemüht sich um ein Lächeln. Doch es wirkt angespannt. Vom Zwiebelschälen und den vielen schlaflosen Nächten sind seine Augen geschwollen. "Ich schlafe nur drei oder vier Stunden", sagt er. "Zu viel zu tun und zu viele Sorgen." Tatsächlich kümmert er sich fast um alles selbst. Von Mittag bis Mitternacht, auch an den Wochenenden, steht er persönlich am Wok, hat immer ein freundliches Wort für seine Gäste und bildet sogar Lehrlinge aus. Außerdem macht er die Finanzen und sorgt dafür, dass im neu eröffneten Restaurant in der Wielandstraße alles läuft. Chinh fühlt sich für alles verantwortlich, würde am liebsten in allen Läden gleichzeitig sein: "Wenn ich als Chef nicht da bin, arbeiten die Leute nicht so gut", sagt er. "Man muss immer aufpassen." Seine Freundin, eine Thailänderin, und den 11-jährigen Sohn sieht er kaum. Nur drei Monate im Jahr kommen beide zu Besuch nach Deutschland, ansonsten leben sie im Norden Thailands, wo sie und Chinh ein Haus besitzen. Wenn er für knapp vier Wochen im Jahr dort ist, verbindet er die Reise meist mit einem Besuch in Saigon, wo seine Mutter bis heute lebt. Sein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. In Deutschland, sagt er, fühle er sich wohl, er komme mit den Deutschen gut klar. Nur das Wetter macht ihm zu schaffen. "Es ist so kalt und so langweilig", sagt er und blickt sehnsüchtig nach draußen in den nassgrauen Novembertag. "Zu Hause in Thailand sind gerade 35 Grad."