Das Parlament: Frau Ates, im vergangenen Juni sind Sie körperlich bedroht worden? Was war der Grund?
Seyran Ates: Nach einem Scheidungstermin wurden meine Mandantin und ich im U-Bahnhof direkt gegenüber vom Gericht abgefangen. Der türkische Ehemann ist auf uns zugestürzt und hat meine Mandantin geschlagen. Mich hat er angebrüllt, beleidigt und versucht zu treten. Dabei hat er die ganze Zeit wahnsinnig laut geschrieen. Mit Mühe und Not konnte ich die Polizei benachrichtigen.
Das Parlament: Zwei Monate später haben Sie Ihre Kanzlei geschlossen. Was war in der Zwischenzeit passiert?
Seyran Ates: Ich konnte meine Arbeit nicht mehr gut machen. Zunächst hatte ich gehofft, über den Vorfall hinwegzukommen. Aber ich hatte ständig Angst, dass dieser Mann wieder auftaucht. Wenn er eine Waffe dabei gehabt hätte, wäre es aus gewesen.
Das Parlament: Sie haben in den vergangen Jahren fast nur Frauen vertreten. Wieso?
Seyran Ates: Ich habe mit der Zeit immer mehr familienrechtliche Angelegenheiten von muslimischen Familien übernommen. Schließlich spreche ich Türkisch, da liegt das nahe. Die Frauen, die zu mir kamen, wurden in den Familien oft bedroht. Ich habe von Anfang an beschlossen, keine gewalttätigen Männer zu vertreten. Ich habe das Gefühl, dass die Gewaltbereitschaft der Männer in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Das hängt einerseits mit der hohen Arbeitslosigkeit und der daraus resultierenden Perspektivlosigkeit zusammen und auf der anderen Seite mit der religiösen Fundamentalisierung, die den Frauen kaum ein Quäntchen Freiheit gewährt.
Das Parlament: Nach dem Angriff hat Sie eine Solidaritätswelle fast überrollt...
Seyran Ates: Zum Teil. Der Deutsche Juris-tinnenbund und der Deutsche und Berliner Anwaltsverein haben ihre große Besorgnis geäußert, haben sich hinter mich gestellt und unterstützen mich. Aber von muslimischer Seite gab es außer von der Islamischen Föderation keine Solidaritätsbekundungen. Was dann neben der ungeheuren Presseöffentlichkeit kam, waren Morddrohungen, verknüpft mit der Aufforderung, ich solle aufhören, Märchen zu verbreiten, ich sei bedroht worden. Und ich solle an die Zukunft meine Tochter denken.
Das Parlament: Stehen sie unter Polizeischutz?
Seyran Ates: Ja. Derzeit ist es ganz schlimm. Ich habe einen Aufruf gemacht, dass integrationswillige Frauen das Kopftuch ablegen sollen. Das Kopftuch wird als politisches Instrument missbraucht. Es ist das ultimative Zeichen der Geschlechtertrennung. Aber ich will nicht mehr dazu sagen, da ich so massiv bedroht werde.
Das Parlament: Sie beugen sich also dem Druck?
Seyran Ates: Ja, weil ich Angst habe. Ich will dieser Gesellschaft zeigen, dass der Druck so stark ist, dass eine freie Meinungsäußerung nicht mehr möglich ist.
Das Parlament: Ihnen wird von der deutschen Öffentlichkeit, gerade von Journalisten, der Vorwurf gemacht, Sie schlägen Kapital aus ihrer Opferrolle. Ihnen wird unterstellt, dass Sie ihre Kanzlei aufgegeben haben, weil Sie kaum Mandanten gehabt hätten. Was sagen Sie zu den Vorwürfen?
Seyran Ates: Die Wirtschaftlichkeit der Kanzlei hat keine Rolle gespielt. Ich habe ohne Schulden geschlossen und lebe jetzt schon seit Monaten von Ersparnissen. Das ist eine perfide Form der Unterstellung. Ähnlich ergeht es Frauen, die vergewaltigt werden. Über die sagt man auch gerne, dass sie schuld sind, weil sie einen Minirock getragen haben. Zu einem Opfer machen mich die Medien. Viele Journalisten sind erst auf meine Geschichte aufmerksam geworden, als ich die Zulassung zurückgegeben habe. Nur als Opfer bin ich für gewisse Journalisten interessant.
Das Parlament: Sie haben jahrelang Einblick in viele türkische Familien gehabt. Wie leben muslimische Frauen in Deutschland?
Seyran Ates: Viele der türkischen Ehefrauen werden aus Anatolien nach Deutschland geholt. Nach der Heirat leben die Frauen in der Familie des Ehemannes und haben kaum Kontakt zur Außenwelt. Oft wird ihnen nicht erlaubt, die deutsche Sprache zu lernen und ein selbstständiges Leben zu führen. Einige dürfen nicht einmal aus dem Fenster schauen, weil ihnen unterstellt wird, dass sie nach anderen Männern gucken. Die Frauen, die hier groß geworden sind, haben ihre Jugend in Deutschland relativ freizügig erlebt. Doch auch das ändert sich gerade. Neuerdings müssen in Berlin Mädchen schon als Siebenjährige mit Kopftuch herumlaufen. Sie dürfen nicht am Schwimmunterricht teilnehmen, nicht auf der Straße spielen und nicht Fahrrad fahren, weil das Jungfernhäutchen beschädigt werden könnte. Eine islamische Frau muss unberührt in die Ehe gehen, so ist die Vorstellung. Ansonsten ist sie schmutzig, hat ihre Ehre verloren und die der Familie beschädigt. Die Mädchen, die oft arrangiert verheiratet werden, was bedeutet, dass sie unter drei Cousins wählen dürfen oder im schlechtesten Fall sogar zwangsverheiratet werden, müssen sich in der Ehe dem Ehemann und seiner Familie fügen. Auch unter den Deutschtürkinnen, die hier aufgewachsen und sozialisiert sind, nehmen solche Ehen zu.
Das Parlament: Wie finden die Frauen den Weg zu Ihnen? Zu einer Rechtsanwältin zu gehen, ist ja auch ein Schritt der Emanzipation.
Seyran Ates: Sie kommen über die verschiedensten Wege. Die meisten durch Beratungsstellen oder auf Empfehlung von Bekannten.
Das Parlament: Auch in Deutschland wird im Namen der Ehre gemordet. Was kann man dagegen tun?
Seyran Ates: Im Verhältnis zu sonstigen Tötungsdelikten sind Ehrenmorde verschwindend gering an der Zahl. Aber jeder Mord ist einer zu viel. Und: Hinter den Ehrenmorden steht ein Kulturverständnis, das mit Aufklärung nichts zu tun hat, archaisch und barbarisch ist. Der deutsche Gesetzgeber könnte zum Beispiel endlich ein Signal setzen und den Ehrenmord ausdrücklich als niedrigen Beweggrund im Gesetz verankern.
Das Parlament: Haben Ihre Mandantinnen Angst, umgebracht zu werden?
Seyran Ates: Viele, sehr viele. Fast 90 Prozent derjenigen, die zu mir kommen, leben mit dieser Angst. Die Männer ertragen es nicht, wenn ihre Frauen sich verlassen. Viele meiner Mandantinnen verstecken sich dann im Frauenhaus.
Das Parlament: Wie würden Sie das männliche türkische Selbstbild beschreiben und wie hat es sich verändert?
Seyran Ates: Es besteht ein Zusammenspiel von Tradition, Religion, Kultur und einem patriachalischen Männlichkeitsbild. Anders als die Mehrheit deutscher Männer sind sehr viele türkische Männer nicht bereit, eine Geschlechterdiskussion zu führen. Sie kämpfen dafür, ihre Rolle zu erhalten, und die Frauen wehren sich nicht dagegen. Je älter die Frauen werden und je mehr sie die Männer und Jungs bestärken, desto angesehener sind sie und desto stärker ist ihre Rolle in der Großfamilie.
Das Parlament: Wie weit sind Deutschtürkinnen von der deutschen Frauenbewegung beeinflusst?
Seyran Ates: Kaum. Die typische junge Deutschtürkin wird eher durch die Türkei selbst beeinflusst. Das türkische Fernsehen ist sehr liberal. In den Sommerurlauben in Istanbul und Antalya erleben die deutschtürkischen Frauen eine freie und gelöste Atmosphäre. In Deutschland leben sie hingegen in geschlossenen konservativen Verhältnissen, weil sie das Gefühl haben, sich gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft verschließen zu müssen. Die Deutschtürken in Deutschland setzen Freiheit fast immer mit sexueller Freiheit gleich. Das Schizophrene an der Sache ist, dass viele Türkinnen aus dem Westen der Türkei hier sehr viel eingesperrter leben als zu Hause. An den konservativen Strukturen, die sie hier in Deutschland unter den Türken vorfinden, verzweifeln sie oftmals. Aber sie schweigen.
Das Parlament: Wie empfinden Sie die politische Diskussion zur Integration. Werden die richtigen Signale gesetzt?
Seyran Ates: Die Politik fängt mit der Islamkonferenz und dem Integrationsgipfel an, in die richtige Richtung zu gehen.
Das Parlament: Was muss die muslimische Seite tun?
Seyran Ates: Die Muslime müssen endlich Farbe bekennen und sagen, was sie wollen und bereit sind, an Verpflichtungen einzugehen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Muslime in Deutschland vor zehn Jahren viel liberaler waren. Diese Form der Fundamentalisierung hat ihre Ursachen auch in der Weltpolitik, in den Kriegen in Afghanistan, im Irak und in der Lage im Iran.
Das Parlament: Ist die Integration der Muslime in Deutschland gescheitert?
Seyran Ates: Sie hat nie statt gefunden. Damit etwas scheitert, muss man erst mal den Versuch eines Anfangs gestartet haben.
Das Parlament: Wo sehen Sie als Muslimin Ihre Rolle?
Seyran Ates: In dieser Situation, in der ich meinen Mund halte, ist sie klar. Ich soll keine Rolle einnehmen. Normalerweise sehe ich mich als jemanden, der eine Brückenfunktion zwischen Muslimen und Deutschen erfüllen kann.
Das Parlament: Gibt es einen Kampf der Kulturen?
Seyran Ates: Ja. Die Fronten haben sich verhärtet. Es gibt auf beiden Seiten die Paranoia, die andere Seite wolle die eigene Religion ausrotten. Gerade der Islam nimmt eine Abwehrhaltung ein. Die Folge ist, dass der Terrorismus derzeit fast ausschließlich aus islamischen Ländern und dem entsprechenden Kulturkreis kommt. Wir haben in jüngster Zeit mit der Verbreitung und Auslegung des Islams ein Problem.
Das Interview führte Annette Rollmann