20.10.1427 steht an der Tafel, das aktuelle Datum des Tages - nach dem islamischen Kalender. An der Wand hängen arabische Schriftzeichen und das Bild einer Moschee. Auf einem Bord steht ein Modell der Kaaba. Grundschullehrerin Saya Alwa erzählt vom Propheten Mohammed. Sie erklärt, warum Muslime im Ramadan fasten und was die Hadsch ist, die Pilgerfahrt nach Mekka.
Zweimal die Woche erkunden die muslimischen Schüler der Mühlenberg-Grundschule in Hannover die neue Zeitrechnung. Während ihre christlichen Alterskollegen in einem anderen Klassenzimmer von Jesus und dem Heiligen Geist erfahren, erhalten sie islamischen Religionsunterricht. Was wie eine Selbstverständlichkeit anmutet, ist in Wirklichkeit eine absolute Ausnahme. Rund 700.000 muslimische Kinder und Jugendliche besuchen eine deutsche Schule. Doch über die Grundsätze ihres Glaubens lernen sie im Unterricht wenig - im Rahmen eines ordentlichen Lehrfaches bis heute nirgendwo.
Lange Zeit überließen die deutschen Behörden die jungen Anhänger Allahs nahezu völlig der religiösen Obhut der türkischen Konsulate oder den Korankursen der islamischen Gemeinschaften. Hier bimsen aus dem Ausland importierte Imame arabische Suren oder predigen das gottgefällige Leben - was nicht immer die Integration fördert. Das soll nun anders werden. In mehreren Bundesländern laufen Schulversuche, um den Kindern des Korans ihren Glauben nahezubringen: in deutscher Sprache und mit Unterrichtsinhalten, die mit bundesrepublikanischen Werten vereinbar sind. In Niedersachsen ist man am weitesten. Kurze Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatte der damalige Ministerpräsident Sigmar Gabriel den muslimischen Eltern einen "Religionsunterricht in deutscher Sprache" versprochen und alle islamischen Verbände zu einem Runden Tisch geladen. Sein christdemokratischer Nachfolger Christian Wulff griff die Idee auf und machte sie zu seiner Sache. Mittlerweile nehmen 21 Grundschulen an dem Unterrichtsversuch teil.
Lehrerin Saya Alwa hat heute Datteln mitgebracht. Dazu erzählt sie eine Geschichte aus dem Koran. Es geht um schlechte Taten und gute Menschen. "Wer ist gut?", fragt sie in die Runde. "Meine Oma", sagt einer, "meine Eltern" ein anderer. "Und wen haben wir Muslime noch als gutes Vorbild?" Fast alle Finger gehen nach oben: "Muhammad". "Richtig", sagt Saya Alwa, fügt ein "Gepriesen sei sein Name" auf arabisch hinzu und hängt Karteikarten mit Worten wie "geduldig" und "freundlich" an die Tafel. Anfangs hätten ihre kleinen Schüler keinesfalls an solch positiven Eigenschaften gedacht, wenn sie von Allah und seinem Propheten sprachen, erzählt Alwa später. Das Gottesbild in den Kinderköpfen war der strenge Herrscher, der alles sieht und straft.
Ob Religionsunterricht oder Kopftuchstreit, die Teilnahme muslimischer Mädchen am Schwimmen oder an Klassenfahrten: Längst hat der Islam die deutschen Klassenzimmer erreicht und stellt Lehrer wie Bildungspolitiker vor neue Herausforderungen. Wie soll man umgehen mit einer religiösen Minderheit, die zunehmend selbstbewusster ihre Rechte einfordert? Dient die Anerkennung religiöser und kultureller Ansprüche der Integration oder führt sie zu weiterer Abkapselung?
Die ersten Erfahrungen mit dem Religionsunterricht in Niedersachsen sind jedenfalls positiv. Den Kindern macht das Fach Spaß. Selbst in der vierten Stunde hören sie noch aufmerksam zu. "Das ist für Erstklässler ungewöhnlich", sagt Willy Förster, Schulleiter an der Mühlenberg-Grundschule in Hannover. "Die Kinder merken, dass der Unterricht etwas mit ihnen zu tun hat."
Einen offiziellen Lehrplan wie für den christlichen Religionsunterricht gibt es indes bis heute nicht, kann es auch nicht geben. Denn die Schulbehörden dürfen das Curriculum nicht in Eigenregie erstellen, sondern sind - ähnlich wie bei den christlichen Kirchen - auf die Mitarbeit einer muslimischen "Religionsgemeinschaft" angewiesen.
Doch genau daran fehlt es. Der Islam kennt keine Kirche. Er besitzt weder eine höchste Lehrautorität wie den Vatikan noch eine Bischofskonferenz oder Mitglieder, die monatlich Kirchensteuer zahlen. Vielmehr sind die Muslime zersplittert in Glaubensrichtungen, Schulen und Sekten. Ein Dutzend Dachorganisationen sowie zwei Spitzenverbände konkurrieren um die Gläubigen.
Bis zum Bundesverwaltungsgericht und zurück führte der Streit über die Frage, ob sich der Islam in das deutsche Staastkirchenrecht einordnen lässt - nur nicht zum islamischen Religionsunterricht. "Wir hatten immer das Gefühl, dass sich die Behörden hinter den Paragrafen verstecken", sagt Ahmet Aries, ein Deutscher, der einst zum Islam konvertierte und seit 20 Jahren für den Religionsunterricht kämpft.
Mehrere Bundesländer versuchen nun aus der Sackgasse herauszufinden, auf verschiedenen Wegen. Nordrhein-Westfalen bietet das Fach Islamkunde im Rahmen eines Modellversuchs schon seit 1999 an, zurzeit an mehr als 120 Schulen. Das Problem: Der Unterricht ist nicht bekenntnisorientiert, die Lehrer sollen informieren, nicht zum Glauben erziehen. Deshalb versucht Düsseldorf nun, dass sich Moscheen und islamische Gemeinschaften auf lokaler Ebene zusammenschließen, um mit ihnen einen regulären Religionsunterricht zu ermöglichen. Den Beginn soll Duisburg machen. Ähnlich geht man in Baden-Württemberg vor, wo die Behörden mit muslimischen Eltern an zwölf Schulen zusammenarbeiten wollen. Analoge Schulversuche, jeweils nur an einem Standort, gibt es in Rheinland-Pfalz (Ludwigshafen) und in Bayern (Erlangen).
Auch in Niedersachsen hilft man sich noch mit Provisorien. Man schulte die Lehrer, die den Migrantenkindern bislang Unterricht in Türkisch oder Arabisch gegeben hatten, zu Religionspädagogen um. Die Arbeitsmaterialien stückelte man aus verschiedenen Quellen zusammen. "Es fehlt eine gewachsene islamische Religionsdidaktik", sagt Heidemarie Ballasch aus dem Kultusministerium in Hannover. Den muslimischen Schülern und den Eltern gefällt das Angebot. 80 bis 90 Prozent der Kinder besuchen den Unterricht. Im Kultusministerium in Hannover heißt es dazu: "Von solchen Zahlen können evangelische oder katholische Religionslehrer nur träumen."
Martin Spiewak ist Korrespondent in der Parlamentsredaktion der "Zeit" mit dem Schwerpunkt Bildung.