Der Karate-Lehrer Alexej Demanow hat eine Party für seine Schüler und deren Eltern organisiert. Sie alle sind Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion. Alexej kam mit seiner deutschstämmigen Frau Irina vor vier Jahren aus Naltschik, der Hauptstadt der völlig verarmten russischen Republik Kabardino-Balkarien. "Wir hatten ein Kind und sahen damals überhaupt keine Perspektive für die Zukunft mehr", erzählt der 30-Jährige. Dank Irinas Herkunft bot sich ihnen ein Ausweg und sie stellten den Antrag auf Übersiedlung nach Deutschland. Fünf Jahre mussten sie warten, bis sie nach Berlin kamen. "Mein Traum war es, hier möglichst schnell eine eigene Karate-Gruppe zu gründen", erinnert sich Alexej.
Der Traum ist längst zerplatzt. "Am Anfang war es sehr schwer, vor allem die unglaubliche Bürokratie", sagt der athletische junge Mann. Alexej wusste so gut wie nichts über die neue Heimat. Einmal angekommen, musste er feststellen, dass Karatelehrer in der Regel nur ehrenamtlich in Vereinen arbeiten, und nicht wie in Russland einen Beruf mit festem Einkommen ausüben. Auch als Sportlehrer, die in Berliner Schulen eigentlich fehlen, kann er nicht tätig werden. Die deutsche Bürokratie fordert dafür ein zweites Fach, das im russischen Bildungssystem nicht nötig war. So schlug sich der umtriebige Alexej nach dem Sprachkurs mit Ein-Euro-Jobs durch und arbeitet heute bei einer Sicherheitsfirma. Ausgleich zu dem ungeliebten Job bietet ihm sein Sport. Im deutschen Karate-Verein war der Profisportler sofort willkommen. Sein achtjähriger Sohn Iwan Christoph ist Berliner Juniorenmeister. "Bei Meisterschaften recke ich immer die deutsche und russische Fahne in die Luft", sagt Alexej.
Die Demanows bereuen ihre Entscheidung nicht. Wie die meisten Aussiedler lebt die insgesamt neunköpfige Großfamilie gerne in den riesigen Plattenbauten Ostberlins. Deutschland sieht hier eigentlich wie Russland aus, finden viele. Sie lieben die breiten Straßen, empfinden die Größe der ausgedehnten Satellitenstädte als Weite und suchen das enge Miteinander der Mehretagenhäuser. Als nach der Wende immer mehr frühere Bewohner aus den tristen Hochhaussiedlungen Marzahns auszogen, füllten sich viele der insgesamt 100.000 Plattenwohnungen bald wieder mit Aussiedlern. Doch die Blöcke sehen heute nicht mehr grau wie zur DDR-Zeit aus, sondern sind in freundlichen Farben gestrichen, Bürgersteige und Spielplätze wurden saniert. Im russischen Supermarkt und in kleineren Läden werden tiefgefrorene Pelmeni, russische Salzgurken und Wodka verkauft.
Seit den 50er-Jahren kamen rund 2,5 Millionen Aussiedler aus der früheren Sowjetunion nach Deutschland. Vor allem in den 90er-Jahren boomte die Ausreisewelle, doch nachdem das neue Zuwanderungsgesetz im Januar 2005 in Kraft trat und damit die Einreisebestimmungen verschärft worden sind, verebbt langsam der Zustrom. Nach Angaben der Bundesregierung kamen vergangenes Jahr nur noch rund 35.000 Spätaussiedler und deren Angehörige, das sind 40 Prozent weniger als noch 2004. "Das Gesetz wirkt wie eine Wanderungsbarriere", sagt die Wissenschaftlerin Barbara Dietz vom Osteuropa-Institut in München. Zwar seien die Aussiedler immer noch privilegiert gegenüber anderen Einwanderergruppen, aber die Politik habe sich über die Jahre "ein ordentliches Problem" geschaffen.
In Marzahn leben heute nach Schätzungen des Bezirks etwa 25.000 Spätaussiedler. Nach Einschätzung von Sergej Henke, Integrationsbeauftragter der FDP im Bezirk, zeigen sich hier die Versäumnisse deutlich: "Die Politik hat dieses Problem verschlafen", sagt der Kommunalpolitiker, der selbst als Deutscher vor 30 Jahren aus der damaligen Sowjetunion einwanderte. Er klagt über die "Ghettoisierung" der Aussiedler, die seiner Einschätzung nach fast alle außerhalb der deutschen Gesellschaft bleiben. "Deutschland ist ein Importland für verunsicherte Menschen aus den instabilen Regionen des russischen Imperiums geworden", sagt Henke. Zwar sei mit dem neuen Zuwanderungsgesetz ein "halbherziger Schritt" getan, den großen Zustrom zu begrenzen, aber die Schwierigkeiten der Aussiedler in Deutschland blieben ungelöst.
Kernproblem für die Integration bleiben mangelnde deutsche Sprachkenntnisse und fehlende Jobs. Bei 21 Prozent Arbeitslosigkeit in Marzahn-Hellersdorf ist es für die Zuwanderer so gut wie unmöglich, irgendwo unterzukommen. "Nur wenige Aussiedler sind hier nicht langfristig arbeitslos", ist die Erfahrung von Gertrud Page, Sozialarbeiterin in der örtlichen Beratungsstelle der Diakonie. "In der Regel richten die sich auf staatliche Hilfe ein und bekommen im Jobcenter meistens nichts angeboten."
"Viele gingen fort, weil sie in der alten Heimat Probleme hatten, und bringen diese natürlich mit", sagt Pages Kollege Gerhard Ohrmann. Die Sozialarbeiter beklagen, dass der Einführungskurs für die Neuankömmlinge zu stark allein auf Spracherwerb abzielt, aber zu wenig Hilfe bei der Orientierung in der neuen Lebenswirklichkeit bietet. Für gebildete Zuwanderer sei es oft besonders schwer, in der neuen Umgebung Fuß zu fassen. "Sie müssen meist unter ihrer Qualifikation arbeiten, fühlen sich nicht angenommen und ziehen sich in sich zurück."
Nina Masson ist eigentlich Psychiaterin, absolviert aber derzeit ein Praktikum bei der Diakonie. Die 59-jährige Russin stammt aus dem westsibirischen Industriezentrum Nowokusnezk. Bevor sie und ihr deutschstämmiger Mann fortgingen, gab es in ihrem psychiatrischen Krankenhaus keine frische Kleidung, keine Bettwäsche und Lebensmittel mehr für die Patienten. Sie entfloh diesem "Alptraum", und es war vor allem die Aussicht auf einen ruhigen Lebensabend in Deutschland, die das Ehepaar zur Ausreise veranlasste.
Während ihr 65-jähriger Mann Oskar als Rentner vor allem zu Hause sitzt, ist Masson eine neugierige, aktive Frau. Aber in ihrem Alter scheint die Sprachbarriere unüberwindbar. In ihrem Beruf wird sie nie wieder arbeiten können. Nun ist Masson froh, sich wenigstens bei der Diakonie etwas nützlich zu machen. Wenn andere Aussiedler kommen, kann die redegewandte Frau ihnen auf Russisch die Schwellenangst nehmen. Aber für eine Übersetzung reichen ihre Sprachkenntnisse trotz einiger Kurse nicht. Wie bei den Massons haben mehr als 70 Prozent der Aussiedler einen russischen Ehepartner.
"Viele Männer verfallen dem Alkohol", beobachtet Masson um sich herum. "Sie fühlen sich überflüssig." Gerade junge Leute sind oftmals zwischen den unterschiedlichen Welten zerrissen. Masson hat ihren fröhlichen Optimismus dennoch nicht verloren und erobert sich auf Spaziergängen Berlin, besucht die Museen und leistet sich einmal im Monat einen Theaterbesuch. "Wir leben hier auf der niedrigsten Stufe, aber im Vergleich zu Russland ist das wie im Paradies." Trotzdem würde sie heute jungen Leuten eher empfehlen, ihr Glück in der alten Heimat zu versuchen statt auszureisen.
Gemma Pörzgen ist freie Journalistin in Berlin. Sie hat mehrere Jahre in Russland gelebt.