Auf seinen Sohn ist Abdul Ergün nicht gut zu sprechen; da macht er abweisende Handbewegungen und murmelt kaum verständliche Worte vor sich hin. An sich wäre das nichts ungewöhnliches. Viele Väter verstehen ihre Söhne nicht mehr, kommen diese erst in die Pubertät. "Verrücktes Blut" nennt man das in der Türkei, jenem Land, aus dem Abdul Ergüns Eltern einst nach Deutschland gekommen sind. Vielleicht ist das Blut von Abduls Sohn etwas verrückter, als das anderer Söhne. Er mache viele Probleme, sagt Abdul, ohne genau zu erläutern, was er damit meint. "Falsche Freunde", schiebt er noch nach und winkt dann wieder mit der Hand ab.
Lange habe Abdul Ergün überlegt, ob er den Sohn nicht für eine Weile zu den Schwiegereltern schicken sollte. Einen Ort, den er "Zurück" nennt. Zurück, wo er auf eine türkische Schule gehen könnte, zurück, wo er andere Freunde fände. "Zurück" beschreibt für Abdul Ergün eine Stadt, irgendwo nahe dem Marmarameer. Fragte man Abduls Sohn, er dürfte das vermutlich anders sehen. "Zurück" wäre für ihn vielleicht das Urban-Krankenhaus in Kreuzberg. Vor 14 Jahren ist er hier zur Welt gekommen; in einem Betonquader am Landwehrkanal.
Seit gut 45 Jahren gibt es in Berlin-Kreuzberg türkische Zuwanderer. 45 Jahre, und noch immer sind Familien wie die von Abdul Ergün mal an zwei Orten und dann wieder an keinem zu Hause. Dabei hat man sich auf allen Seiten einzurichten versucht. Etwa mit jener Legende, nach der Berlin-Kreuzberg mit seinen gut 160.000 Einwohnern - davon fast ein Drittel Migranten - die drittgrößte türkische Stadt der Welt sei. Bereits seit den 80er-Jahren, als Quartiere wie das legendäre SO 36 noch das Dorado einer linken Gegenkultur waren, erzählt man sich diese Geschichte. Bei türkischen Zuwanderern weckte sie Heimatgefühle, bei Deutschen eine merkwürdige Hysterie. Dabei lag die Wahrheit immer anders. Da ist zum Beispiel Izmir - eine Stadt mit nahezu drei Millionen Einwohnern - nach Istanbul und Ankara die drittgrößte Stadt der Türkei. Die Kreuzberger hat das nie gestört. Vermutlich hat auch nie einer nachgerechnet. Auch jetzt nicht, da Kreuzbergs "Türken" erneut in aller Munde sind: Es hat Krawall gegeben. Zunächst am 14. November, als nach einem Raubüberfall zwei 12-jährige Jugendliche von der Polizei festgenommen wurden und im Anschluss Tumulte unter Passanten und Jugendlichen ausbrachen, dann zwei Tage später, als in der Eberhard-Klein-Schule etwa acht türkischstämmige Jugendliche einen 16-jährigen Schüler bedrohten. Anschließend verletzten sie ihn mit Messerstichen. Seither sind Journalisten und Medien im östlichen Kreuzberg unterwegs; in einer Gegend, die bis zum Mauerfall unbeobachtet im toten Winkel West-Berlins gelegen hat: dem so genannten Wrangelkiez.
Gut 12.400 Menschen leben hier; 23,9 Prozent sind türkischer Herkunft, 18,1 Prozent unter 18 Jahren. Ein sozialer Brennpunkt war diese Gegend schon lange. Nun aber fragt eine große deutsche Tageszeitung, ob der Wrangelkiez nicht vielleicht die "Banlieue von Berlin" sei. Bilder werden in die Welt gesetzt; Andeutungen - vage und inhaltslos. Statt auf die oft fehlenden Perspektiven der Jugendlichen zu verweisen, auf hohe Arbeitslosigkeit oder bildungsferne Elternhäuser, wird zumeist nur müde auf die kleinste Gemeinsamkeit verwiesen: den Migrationshintergrund. "Den Fremdländer", so hat es schon vor Jahren der Schriftsteller Feridun Zaimoglu formuliert, "den Fremdländer kannst du nimmer aus der Fresse wischen."
Dabei gäbe es weitaus andere Dinge, die sich diese Jugendlichen nicht "aus der Fresse wischen" können: Müdigkeit und kariöse Zähne zum Beispiel. Auf diesen Umstand hat bereits vor längerer Zeit Christine Baur aufmerksam gemacht. Sie ist Sozialpädagogin an der Eberhard-Klein-Schule. Diese integrierte Haupt- und Realschule musste vor gut eineinhalb Jahren einen traurigen Rekord vermelden. Im Sommer 2005 haben die letzten fünf Schüler deutscher Herkunft diese Schule verlassen. Seither macht das Wort von der "100-Prozent-Multikulti-Schule" die Runde; eine "Res-teschule" für "Resteschüler".
Und die Eberhard-Klein-Schule ist erst der Anfang. "Wir können nicht den Deutschen hinterherlaufen", sagt etwa Quartiersmanagerin Emine Basran. Und sie sagt dies in einer Gelassenheit, die so gar nicht zu der aktuellen Hysterie passen will. Noch sind "die Deutschen" schließlich da. Sie werden auch bleiben, zumal Kreuzberg seit geraumer Zeit wieder als Szene- und Ausgehkiez entdeckt wird. Aber "die Deutschen" wandern aus den Schulen aus; nachhaltig und zum Teil mit faulen Tricks.
Besonders gängig hierbei: die falsche Adresse. Kurz vor der Einschulung werden ganze Kreuzberger Familien zu Scheinnomaden. Auf den Formularen der Meldeämter werden Wohnsitze und Adressen verschoben, siedeln Kinder und Eltern zu Freunden und Großeltern um. So hat es auch Gudrun Lange gemacht. Die Lehrerin und Mutter zweier Kinder hätte ihren ältesten Sohn eigentlich an der Fichtelgebirge-Grundschule anmelden müssen. Schon jetzt sind hier 80 Prozent der Kinder nicht deutscher Herkunft. Also ist Gudrun Lange umgezogen - nur auf dem Papier versteht sich. Das Problem, sagt sie, sei nicht der Migrationshintergrund; vielmehr gebe es in diesen Schulen ein Unterschichtenproblem. Sie kenne zahlreiche türkische Mittelstandsfamilien, die bei der Schulanmeldung der Kinder ebenso tricksen würden. Wer wolle seine Kinder schon auf eine stigmatisierte Problemschule schicken? Da ist sie also in der Welt: "Unterschicht" - jene Vokabel, die man am liebsten auf die hintersten Seiten deutscher Wörterbücher verbannen würde. In Kreuzberg jedoch findet sie zu oft eine Entsprechung in der Realität. Das hat der 20 Quadratkilometer große Bezirk mit vielen Berliner Gegenden gemeinsam: mit Marzahn etwa oder mit Lichtenberg. Dort aber ist die Unterschicht deutsch, hier hat sie zu oft dunkle Haare. Das zu erklären, ist nicht einfach. Wie so oft hat man daher in Berlin eine Legende gewoben: Es ist die Legende von der bunten und multiethnischen Stadt. Von der Stadt, in der es ein Radio Multikulti und einen "Karneval der Kulturen" gibt. Diese Legende kennt in Berlin jeder Taxifahrer: Wo viele Kulturen zusammenleben, da gibt es eben auch viele Probleme. Die Wahrheit: 13 Prozent der Berliner Bevölkerung sind nicht deutscher Herkunft. In München sind es 23 Prozent, in Köln 19 Prozent. Selbst im verschlafenen Aachen liegt der Anteil gut vier Prozentpunkte höher als an der Spree.
Doch nackte Zahlen helfen nicht weiter. Schließlich ist in Berlin mit dem Mauerfall auch ein Großteil der industriellen Strukturen weggebrochen. Für oftmals ungelernte Migranten war das der Beginn der sozialen Deklassierung. Dass das so genannte "Migrationsproblem" in Berlin oftmals eher ein soziales Problem ist, das meint daher auch der Integrationsbeauftragte des Berliner Senats, Günter Piening. "Die Migranten", so Piening, "sind in Berlin oftmals die eigentlichen Verlierer der Einheit gewesen." Lösen ließen sich seiner Meinung nach zahlreiche Schwierigkeiten daher erst, wenn auch eine Lösung für die wirtschaftliche Schieflage der Stadt in Sicht ist.
Bis dahin sucht man sich im wiedervereinigten Berlin nur allzu oft noch selber aus, mit wem man sich wirklich "vereinigen" will. Auch wenn viele kleine Initiativen zur Stärkung bürgerlichen Engagements von Erfolg gekrönt sind: Der Migrationshintergrund wirkt selbst in Kreuzberg noch immer wie eine soziale Mauer. Özcan Mutlu, Bildungspolitischer Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, weiß von Migrantenkindern zu berichten, die auf der Straße noch nie mit einem deutschen Kind gespielt hätten. "Kein Wunder", so Mutlu, "dass diese Kinder bei der Einschulung kaum ein Wort Deutsch sprechen können." Wenn später auch noch engagierte Lehrer fehlten, dann stünde am Schulende oftmals nur eine Hartz-IV-Karriere.
Doch selbst Armut geht im Wrangelkiez getrennte Wege: Während vor einem Supermarkt an der Falckensteinstraße ein Grüppchen Arbeitsloser den Tag vertrinkt, steht eine Straße weiter eine Clique türkischstämmiger Jugendlicher in Kapuzenpullovern herum. Man vertreibt sich den Nachmittag mit Gangsterposen. Verglichen mit der Nachbarecke sieht das um Längen cooler aus. Ein Idealbild von "arm aber sexy" - gerade so, als wäre die soziale Frage in Berlin allenfalls noch eine Stilfrage.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.