Wenig mehr als zehn Jahre später - ein völlig gewandeltes Bild. Nach Schätzungen der Organisation Pro Asyl haben im gesamten Jahr 2006 nur noch rund 20.000 Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragt. Der stetige Rückgang spiegelt sich auch im jüngsten Bericht des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). In der ersten Jahreshälfte 2006 ist die Zahl der Antragsteller in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr noch einmal um 21 Prozent zurückgegangen. Noch höhere Rückgänge verzeichnen Frankreich (41 Prozent), Griechenland (38 Prozent), Österreich (31 Prozent) und Belgien (29 Prozent).
In Europa insgesamt wurden in der ersten Hälfte 2006 laut UNHCR 97.000 Asylanträge eingereicht. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Rückgang um 19 Prozent. Besonders scharf ist der Kontrast in den zehn neuen EU-Ländern. 8200 Asylanträge bis Juni 2006 - das sind 30 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum 2005 und sogar 54 Prozent weniger als 2004, dem Jahr ihres EU-Beitritts. Bemerkenswert sind aber auch einige gegenläufige Trends. So hat sich laut UNHCR die Zahl der Asylbewerber in den Niederlanden innerhalb eines Jahres um 71 Prozent erhöht, und in Schweden sind elf Prozent mehr Flüchtlinge angekommen, die ein Bleiberecht geltend machen. Generell gingen die Zahlen im Süden Europas zurück, blieben in Nordeuropa aber stabil. Rückgänge oder zumindest gleichbleibende Zahlen werden auch in den USA, Japan, Neuseeland und Kanada registriert.
Eine "Kombination von verschiedenen Ursachen", vermutet der Asylexperte im Brüsseler Büro von Amnesty International, Kris Pollet, angesichts dieser Zahlen. Fest steht, dass seit einigen Jahren Wirtschaftsflüchtlinge genauso wie politisch Verfolgte immer häufiger nur noch dann auf europäisches Territorium gelangen können, wenn sie hohe Summen an Schleuser zahlen. Die Europäische Union investiert viel in die Sicherung ihrer Grenzen und die Ausbildung ihrer Grenzbeamten. Sie exportiert Technik und Know-how in Länder wie Ukraine, Weißrussland oder das nordafrikanische Marokko. Sie trainiert die Grenzbeamten der Nachbarstaaten. "Es wird aber auch einiges getan, um die Nachbarn für das Los der Flüchtlinge zu sensibilisieren. Man hilft ihnen, eigene Asylsysteme aufzubauen, das ist durchaus die Kehrseite der Abschottung", meint Pollet.
Aber auch andere Wege werden versperrt: Die Einreise mit einem gültigen Visum etwa. Gerade für Menschen aus Krisenregionen ist es inzwischen schwer, ein Visum nach Europa zu bekommen. Die Behörden sind misstrauisch geworden, weil es auch viele Migranten gibt, die legal mit einem Visum einreisen und nach Ablauf ihrer Zeit einfach untertauchen. Transportunternehmen, die Flüchtlinge ohne Papiere über die Grenzen bringen, müssen inzwischen in fast allen EU-Staaten mit harten Sanktionen rechnen. Lkw-Fahrern, Flugzeugführern und Schiffskapitänen drohen nicht nur Geldstrafen, sie sind auch verpflichtet, ihre blinden Passagiere wieder Richtung Heimat zurückzubringen.
In Deutschland wurden darüber hinaus zwei spezielle Maßnahmen entwickelt - und von anderen EU-Staaten kopiert -, die im eigenen Land die Zahl der Asylbewerber sinken lassen. Wer aus einem "sicheren Drittstaat" einreist, muss dort seinen Antrag stellen. Wer aus einem "sicheren Herkunftsstaat" kommt, hat nur Anspruch auf ein Schnellverfahren. Der jüngste Migrationsbericht der Bundesregierung zählt aber auch einen weiteren Grund für den Rückgang der Zahlen auf, und der ist positiv: Die wachsende politische Stabilität in Europa. So stammte von den mehr als zwei Millionen Menschen, die zwischen 1990 und 2005 in Deutschland Asyl beantragt haben, der größte Teil aus Europa einschließlich der Türkei. Doch je mehr sich die Staaten Osteuropas politisch festigen konnten und seit das Morden in Jugoslawien gestoppt ist, haben die Menschen keinen Grund mehr, aus ihrer Heimat zu fliehen. Dagegen wächst die Zahl der Flüchtlinge aus Asien, die in Deutschland Asyl beantragen. 2004 stammten 39,2 Prozent der Antragsteller aus Asien, 37 Prozent aus Europa und 22,6 Prozent aus Afrika.
Europa wird der Vorwurf gemacht, seit es sich zur "Festung" entwickelt habe, hätten Verfolgte gar keine Chance mehr, ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen. Doch das Schlagwort "Festung" drückt nicht die ganze Wahrheit aus. Genauso könnte man Europa ein "Sieb" nennen, denn die Zahl der illegalen Migranten geht - zumindest nach den einschlägigen Schätzungen - nicht zurück. 500.000 Menschen wandern jedes Jahr in die Schattenwelt Europas ein, so die Zahlen von Europol. Viele Armutsflüchtlinge haben in der Vergangenheit versucht, mit einem Asylantrag ein zumindest begrenztes Bleiberecht zu bekommen, obwohl sie dazu nicht berechtigt waren.
Gerade dieser Missbrauch des Asylsystems war es, der die Regierungen - unter dem Druck der Bevölkerung - dazu brachte, massiv in neue Datenbanken, schärfere Kontrollen und Abschottung zu investieren. Und es gibt immer noch viele Bewerber, die mit zweifelhaften Begründungen das Asyl beantragen. Aus dem jüngsten Jahresbericht der EU-Datenbank Eurodac geht hervor, dass etwa 16 Prozent der 2005 gestellten Asylanträge von derselben Person zuvor schon einmal gestellt wurden, oft im selben Land. Auch wer einen Asylantrag stellt, hat es zunehmend schwer, eine als politisch oder gleichwertig Verfolgter anerkannt zu werden. In Deutschland etwa sind es unter einem Prozent der Antragsteller, die akzeptiert werden. Langsam verbreitet sich diese Botschaft auch jenseits der Grenzen in jenen Ländern, aus denen die Migranten kommen. Es liegt also sehr nahe zu vermuten, dass der Asylantrag für Wirtschaftsflüchtlinge eine Zeitlang ein brauchbarer Weg schien, in Europa Fuß zu fassen. Diese Zeiten haben sich geändert.
Ist der Rückgang der Asylbewerberzahlen also auch ein Beweis, dass es gelungen ist, Flüchtlinge abzuschrecken? Selbst wer diese Frage mit Ja beantwortet, kann mit der heutigen Situation nicht zufrieden sein. "Unter den Flüchtlingen gibt es nach wie vor Menschen, die verfolgt werden. Ihre Zahl mag klein sein, aber es gibt sie", sagte unlängst Richard Williams vom Europäischen Flüchtlingsrat (ECRE) auf der europäisch-afrikanischen Migrations-Konferenz in Tripolis. "Man muss diese Menschen identifizieren und ihnen Schutz gewähren. Die Frage ist, wer das tut, wo das geschieht und wer sie aufnimmt?" Selbst wenn der Rückgang der Asylbewerberzahlen ein Zeichen dafür ist, dass es immer besser gelingt, den Missbrauch eines Systems zu verhindern, so dürfen die Leidtragenden nicht gerade diejenigen sein, die dieses System nach wie vor dringend brauchen.
Cornelia Bolesch ist Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Brüssel.