Europa ist zum ersten Anlaufpunkt internationaler Migrationsströme avanciert. Von einer gemeinsamen Migrationspolitik sind die EU-Länder jedoch weit entfernt.
Im November 2005 versetzten arabischstämmige Jugendliche die Vororte von Paris in einen brennenden Ausnahmezustand. Einen Monat zuvor schreckten die "Todessprünge von Ceuta" die europäische Öffentlichkeit auf, als afrikanische Flüchtlinge die stacheldrahtbewehrte EU-Außengrenze überwinden wollten. Wiederum ein Jahr vorher hatten der Mord am Filmemacher Theo van Gogh und die anschließenden Straßenkrawalle die toleranten Niederlande in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. Und in Dänemark entzündete sich ein "Karikaturenstreit". Dass sie längst Einwanderungsländer sind, mit sozialen Konfliktpotenzialen, wollen viele europäische Nationen nicht wahrhaben.
Dabei leben in den EU-Ländern bereits Millionen Bürger mit Migrationshintergrund. Noch vor hundert Jahren war Europa ein Auswanderungskontinent, und bis in die 1980er-Jahre hinein verstanden sich Staaten wie Irland oder Italien als klassische Auswanderungsländer. Heute ist die Europäische Union zum Hauptziel weltweiter Migrationsströme avanciert. Nach einer Aufstellung der Deutsche Bank Research wählten zwischen 1990 und 2000 mehr als 32 Prozent aller Migranten (insgesamt 56 Millionen) Europa als Anlaufziel, gefolgt von Nordamerika mit lediglich 23,4 Prozent (41 Millionen).
Die Menschen kommen aus verschiedenen Gründen und mit unterschiedlichem Bildungshintergrund: Manche suchen Asyl vor politischer Verfolgung, andere wirtschaftliche Prosperität, wieder andere berufliche Selbstverwirklichung. Den europäischen Staaten kommt ein Zuzug dabei prinzipiell nicht ungelegen. Vor dem Hintergrund demografischer Prognosen, insbesondere einer gesellschaftlichen Überalterung und sinkenden Geburtenraten, bemühen sich viele europäische Länder um eine geordnete Migration.
Allerdings sind die nationalen Herangehensweisen äußerst verschieden, und zusammengenommen resultiert daraus keine gesamteuropäische Migrationspolitik; um sie wird noch gerungen. Je nach kultureller Tradition und ökonomischer Ausgangslage öffnen die Länder ihre Grenzen. Alte Kolonialmächte wie Großbritannien, Frankreich und die Niederlande weisen traditionell eine lange Erfahrung mit Einwanderern auf. Boomende Volkswirtschaften wie Spanien und Irland benötigen Arbeitskräfte en masse. Neben Großbritannien und Schweden gehört Irland zu den wenigen alten EU-Ländern, die seit der Ost-Erweiterung im Jahr 2004 auch die neuen EU-Bürger vorbehaltlos willkommen heißen.
Nicht alle, die kommen, wollen für immer bleiben. Die meisten europäischen Migranten genießen vor allem die wirtschaftliche Freizügigkeit, die ihnen das Schengener Abkommen bietet. Gleichwohl haben viele Länder ihre Einbürgerungsbestimmungen liberalisiert. In Großbritannien, Frankreich und eingeschränkt in Deutschland ist eine erleichterte Einbürgerung auch bei Geburt im Inland vorgesehen. Andere Staaten wie die Niederlande, Schweden, Italien und Spanien haben sehr unterschiedliche Einbürgerungsoptionen für Volljährige, Ehegatten oder bei mehrjähriger Ansässigkeit.
Gemeinsam ist vielen EU-Staaten, dass sie bei einer Einbürgerung von den Migranten die Aufgabe ihrer bisherigen Staatsbürgerschaft fordern. Und ein Bekenntnis zu den kulturellen Normen und Werten ihrer neuen Heimat. Stichwort: Integration. Angesichts sozialer Konflikte und drohender "Parallelgesellschaften" hat die Frage, wie bedeutsam eine gesellschaftliche Integration ist und wie man sie überprüfen könnte, zu verschiedenen Antworten geführt. In England, den Niederlanden und in Schweden ist ein Einbürgerungstest, wie ihn auch die deutschen Bundesländer Sachsen und Baden-Württemberg vorsehen, längst obligatorisch. Spanien setzt auf ein Interview in Form eines persönlichen Gesprächs. Italien verzichtet ganz auf Kontrolle.
Mit dem Einbürgerungstest sollen die Sprachfähigkeit überprüft und Eckwerte über Politik, Gesellschaft und Religion abgefragt werden. Die Niederlande gehen dabei besonders weit: Immigrationswillige müssen sich auf eigene Kosten eine 110-minütige DVD mit typischen Szenen aus dem holländischen Alltag kaufen, inklusive Barbusiger am Strand und küssender Homosexueller. Wer daran nichts auszusetzen hat und einen standardisierten Sprach- und Geschichtstest besteht ("Welcher Religion gehörte der spanische König an, gegen den die Niederlande um Unabhängigkeit kämpften?"), ist "mehr als willkommen".
Solche Testverfahren sind umstritten, und noch liegen keinerlei Erkenntnisse vor, ob sich damit Integrationswille kontrollieren lässt. Wie bei der Führerscheinprüfung könnten die richtigen Antworten gepaukt und vor als anstößig empfundenen Bildern die Augen verschlossen werden. Nichtsdestoweniger gehören sie zum europäischen Alltag und Selbstverständnis.
Sollte sich tatsächlich einmal das Schlagwort von Europa als "Vielfalt der Kulturen" bewahrheiten, wird allmählich klar, dass europäische Identität nur auf einer höher stehenden Idee gründen kann als der der Ökonomie. Von Migranten, die in Europa wirtschaftliche Vorteile suchen, darf erwartet werden, dass sie diese Idee mittragen.
Der Autor ist freier Journalist und lebt in Berlin.