Viele Deutsche emigrieren in die Schweiz. Die alpenländischen Unternehmen sind mehr und mehr auf sie angewiesen, um ihren Personalbedarf zu decken. "Wir bilden längst nicht genügend Ingenieure aus, um die Bedürfnisse der Industrie zu decken", bedauert Konstantinos Boulouchos, Leiter des Labors für Aerothermochemie und Verbrennungssysteme an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Seine Studenten sind gefragt bei Technologiekonzernen wie ABB in Baden, Wärtsilä in Winterthur oder Saurer in Arbon. Doch immer häufiger gesellen sich zu den Schweizer Spezialisten Ausländer, darunter vor allem Deutsche. Bei der weltweiten Nummer eins in der Entwicklung und im Bau von Turbosystemen für große Motoren, bei ABB, haben rund 1.000 Beschäftigte einen deutschen Pass. Das macht 20 Prozent der Belegschaft aus. Zwar sind etwa 600 dieser 1.000 Pendler aus dem süddeutschen Raum. Doch ABB wie auch andere große Schweizer Konzerne rekrutieren inzwischen direkt in Deutschland oder profitieren von guten Beziehungen zu Fach- und universitären Hochschulen.
Obwohl auch in Deutschland das Konjunkturbarometer nach oben weist und die Nachfrage nach Fachleuten im technischen Bereich groß ist, haben Schweizer Konzerne gegenüber ihren deutschen Konkurrenten gute Karten, wie es seitens des Schweizerischen Verbandes der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, Swissmem, heißt. Denn die deutschen Fachleute kommen offensichtlich gerne in die Schweiz. Der südliche Nachbar ist der Deutschen liebstes Auswanderungsland geworden. 2005 zogen 14.409 deutsche Staatsbürger in die Schweiz. Damit hat das Alpenland die USA vom Spitzenplatz verdrängt. Und gekommen sind natürlich nicht allein Ingenieure. Fast alle Berufsgruppen sind in der Zuwanderungsstatistik vertreten. Deutliche Zuwachsraten verzeichneten etwa Gastronomie und Baugewerbe.
Ein Grund für die sprunghafte Zunahme der deutschen "Gastarbeiter" ist in den bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU zu suchen, die aus Schweizer Sicht zu einem Paradigmawechsel der Einwanderungspolitik geführt haben. Seit 2002 können Angehörige von EU-Ländern problemlos eine Stelle in der Schweiz antreten, während Einwanderungswillige von außerhalb der EU oder der Efta es wesentlich schwerer haben.
Doch schon vor der Umsetzung der bilateralen Regelung waren Deutsche in gewissen Branchen stärker vertreten als andere Ausländergruppen. Auf sie zu verzichten, kann man sich in der Schweiz kaum mehr vorstellen. Ihre starke Präsenz etwa an den Schweizer Hochschulen ist ein altbekanntes Phänomen: "Die Faustformel lautet grundsätzlich: Ein Drittel der Lehrenden an Schweizer Hochschulen im Ober- und Mittelbau sind Ausländer, davon wiederum zwei Drittel Deutsche", erklärt Wolfgang Spliesgart von der Deutschen Botschaft in Bern. Im akademischen Bereich war denn der Zuwanderungssprung in den vergangenen Jahren auch nicht mehr außergewöhnlich hoch. Stark vertreten sind und waren die Deutschen auch in den Pflegeberufen. Ein knappes Viertel der Ärzte und Assistenzärzte am Zürcher Universitätsspital sind deutsche Staatsbürger. Dasselbe gilt auch für das Pflegepersonal an derselben Klinik, um ein Beispiel zu nennen, welches das Gesamtbild spiegelt.
Aus Schweizer Sicht wird die Anwesenheit sowohl bei den gewerblichen wie den akademischen Berufen als durchaus wünschenswert erachtet. "Wenn ein besserer Deutscher an eine Universität kommt als ein weniger guter Schweizer, dann bringt das unserem Land etwas", erklärt der Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco), Jean-Luc Nordmann. Und auch in der Baubranche oder im Gastgewerbe werden die Deutschen wegen ihrer Sprachkenntnis und der guten Ausbildung geschätzt. Weil sie in der Regel auch kaum Niedriglohn-Jobs suchen, hat ihr Zustrom keine negativen Auswirkungen auf das Lohnniveau. Zudem hatte die Zuwanderung keine Verdrängung von Schweizern durch deutsche Arbeitnehmer zur Folge.
Doch zu glauben, man könne einfach und überall eine Stelle bekommen, wäre verfehlt. Vor allem bei den stark vertretenen kleinen und mittleren Betrieben ist es keineswegs Usus, Stellen mit Zuwanderern zu besetzen. Der in der Schweiz marktführende Hersteller von Wasch- und Küchenmaschinen, die V-Zug AG, beispielsweise beschränkt sich auf Personen mit Wohnsitz im Land, vorzugsweise in der weiteren Umgebung des Zentralschweizer Standorts. Entsprechend finden sich unter den rund 1.200 Beschäftigten nur neun Deutsche, die bereits vor Stellenantritt in der Schweiz lebten.
Die Schweiz ist kein Eldorado, wo jeder sein Glück findet. Das zeigt sich aktuell auch am Beispiel der Zahnärzte. Zwar hat die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich seit Juli 2004 an rund 70 deutsche Zahnärzte eine Praxisbewilligung erteilt - gegenüber 45 Schweizern. Doch wurde ein Viertel der von Deutschen eröffneten Praxen nach kurzer Zeit wieder geschlossen oder nie eröffnet. Die Hoffnung, sich einen Marktvorteil zu verschaffen, indem man das schweizerische Preisniveau unterlaufen würde, entpuppte sich als Illusion. In den gesättigten Markt einzudringen, war für manche nicht möglich.
Die hohen Zuwanderungsraten aus Deutschland haben in der Schweiz zunächst zu einer gewissen Irritation geführt. So fiel in gewissen Schweizer Medien das Wort von der Teutonisierung der Schweiz. Im beruflichen und privaten Alltag jedoch haben die Deutschen kaum mit xenophoben Attacken der Alpenlandbewohner zu rechnen, wenn auch ständig die Eloquenz und das schnelle Denken der Deutschen gegenüber der trägeren Schweizer Art hervorgehoben wird. Leicht empfindet man das als Arroganz.
Umgekehrt schätzt man die kulturellen Gemeinsamkeiten, und vermehrt nehmen die Schweizer auch die Bemühungen der Deutschen wahr, sich zu assimilieren. Schweizerdeutschkurse speziell für Deutschsprachige haben Konjunktur. Zwar werden Deutsche - eher als Englischsprachige - belächelt, wenn sie sich in der Mundart versuchen. Doch passive Sprachkenntnisse werden geschätzt. Das Verhältnis zwischen der Schweiz und Deutschland ließe sich als eine Art geschwisterliche Hassliebe beschreiben, wobei die Skepsis seitens des kleineren gegenüber dem größeren Bruder naturgemäß größer ist. Für die Deutschen wiederum hat die Schweiz nicht nur höhere Löhne und niedrigere Steuern zu bieten. Richard Pink, Professor für Mathematik an der ETH Zürich, lebt bereits seit 1999 in der Schweiz. Für ihn ist das Land aufgrund der gemeinsamen Sprache und Kultur zur Heimat geworden, die gleichzeitig eine gewisse Exotik bewahrt habe, so Pink. Begegnungen mit Phänomenen wie dem Läuten von Kuhglocken in den Bergen würden an eine Welt anklingen, die wohl nur mehr in den Köpfen besteht, eine heile Welt, welche die Schweiz auch nicht mehr sei, meint der Mathematiker. Doch immerhin habe sie noch genügend weitgehend intakte Momente zu bieten, um Sehnsuchtsgefühle zu wecken.
Ronald Schenkel ist Redakteur der "Neuen Zürcher Zeitung".