Michele Ninottas Heimat liegt am Meer: Die ersten 15 Jahre seines Lebens hat er an der Südküste Siziliens verbracht, in einem Ort Namens Ravanusa. Michele denkt gern daran zurück. Doch als sein Vater, der in Deutschland Arbeit als Mechaniker gefunden hatte, 2001 beschloss, dass Michele und seine Mutter Italien verlassen und bei ihm wohnen sollten, traf das den heute 19-Jährigen wie ein Schlag. Von einem Tag auf den anderen war er in einem Land, in dem er keinen kannte und dessen Sprache er nicht sprach. "Man verliert seine Freunde und alles, womit man aufgewachsen ist. Man muss wieder bei Null anfangen", erzählt Michele.
Dabei war die Reise nach Deutschland für Michele eigentlich eine Rückkehr. Denn geboren wurde er in Köln. Seine Eltern waren in den 70er-Jahren nach Deutschland gekommen und hatten versucht, hier Fuß zu fassen. Sie blieben bis kurz nach Micheles Geburt 1987. Dann packte sie das Heimweh und sie kehrten nach Sizilien zurück. Aber in Italiens ärmster Region wollte es mit dem Neubeginn nicht klappen. So reiste Micheles Vater erneut nach Deutschland, wieder auf der Suche nach Arbeit. "Ein ziemliches Hin und Her", sagt Michele rückblickend. Allerdings kennt er auch andere Familien, denen es ähnlich ergangen ist. Die Folge: "In Deutschland fühlten sie sich als Ausländer und in Italien waren sie die Deutschen", weiß Michele aus den Erzählungen seiner Eltern. Nach fünf Jahren in seiner neuen Heimat hat Michele sich gut eingelebt. Er hat neue Freunde gefunden, sein Abitur mit 1,0 bestanden und sich an der Universität Köln für einen Lehramtsstudiengang in den Fächern Italienisch und Latein eingeschrieben.
Doch dass er damit eine Ausnahme unter der Mehrheit der italienischen Jugendlichen bildet, ist ihm bewusst. Denn für junge Italiener gilt, was auch für junge Türken oder andere Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland zutrifft: Wenn in der Familie kein Deutsch gesprochen wird, haben sie oft massive Sprach- und Schulprobleme.
"Das ist auch vielen von meinen Freunden passiert", sagt Michele. An der Schule habe man sich nicht ausreichend um sie gekümmert. Sie wurden auf Haupt- oder auch Sonderschulen gesteckt. Das ärgert ihn. Und zum ersten Mal bricht bei dem sonst sehr ruhigen jungen Mann das durch, was man landläufig "italienisches Temperament" nennt: "Wenn ein Kind die Sprache nicht richtig beherrscht, ist damit nicht gesagt, dass es dumm ist, oder?" Doppelt schwer haben es Micheles Bekannte, weil sie auch kein gutes Italienisch sprechen, wie er sagt. In der Familie lernen sie sizilianischen Dialekt - doch das werde auf dem Arbeitsmarkt nicht akzeptiert.
Was bei Michele anders lief? Er kam direkt auf eine bilinguale Schule in Köln, das "Instituto Italo Svevo", wo zweisprachig unterrichtet wird. "Ich hatte das Glück, dass ich gut italienisch kann, und deshalb etwas weniger Zeit in italienische Fächer investieren musste und mich mehr auf die deutschen konzentrieren konnte." So wurde sein Deutsch nach und nach besser. Dass dieser Lernprozess, den er weiter ausbauen will, erst vor fünf Jahren begann, merkt man kaum. Nur manchmal verwechselt er einen Artikel oder kommt ins Stocken, weil ihm das passende Wort nicht einfällt. Seiner Schule ist Michele unendlich dankbar. Doch nur die Schule war es nicht, die Micheles Geschichte zur Erfolgsgeschichte gemacht hat. Stets hat er sich auch deutsche Freunde gesucht. Immer nur unter Italienern bleiben, das wollte er nicht. Dass viele Italiener nur scheinbar gut integriert sind, liegt oft auch an ihnen selbst, findet Michele. Und am Lauf der Geschichte, denn sie kamen, um zu arbeiten und viele träumen bis heute von der Rückkehr. Von diesen Gedanken handelt auch ein Dokumentarfilm, den Michele in einer Projektwoche an seiner Schule realisiert hat. "Una patria che non ci appartiene - Eine Heimat, die nicht uns gehört", heißt er. Michele will so nicht denken: "Ich kann nicht hier leben, wenn ich immer sage, dass ich woanders sein möchte." Er plant sein Leben in Deutschland. Und später wieder zurück nach Ravanusa? Er lacht und schüttelt den Kopf: "Wenn ich zurück nach Ravanusa gehen soll - das wäre für mich ein Trauma!"