Binnen weniger Jahre hat sich Spanien vom klassischen Auswanderungsland zum Ziel von Millionen von Immigranten gewandelt. Während noch in den 60er-Jahren fast 1,5 Millionen Spanier auf der Suche nach Arbeit Richtung Nordeuropa aufbrachen - 5,5 Millionen hatten zu Beginn des Jahrhunderts ihr Glück jenseits des Atlantiks versucht -, kamen in den vergangenen zehn Jahren nahezu vier Millionen Ausländer nach Spanien. Allein eine Million ließ sich in der Hauptstadt Madrid nieder. Den einen versprach der kaum zu stillende Hunger nach Arbeitskräften einer durch EU-Beitritt und Euro-Einführung boomenden Wirtschaft ein sicheres Auskommen. Selbst dann, wenn sie illegal ins Land kamen oder nach Ablauf ihres Touristenvisums einfach blieben. Die anderen, Rentner zumeist, lockte die Aussicht auf einen Platz an der Sonne für einen geruhsamen Lebensabend. 50 Prozent der Einwanderer kamen aus Marokko, Ecuador, Rumänien, Kolumbien und Großbritannien.
Die größte Aufmerksamkeit erhielt in den vergangenen Monaten jedoch eine prozentual gesehen eher kleine Gruppe: Die bald tägliche Ankunft auf den Kanarischen Inseln von so genannten Cayucos - wackeligen Fischerbooten mit oft bis zu 70, 80 erschöpften und auf engstem Raum zusammengepferchten Menschen aus Afrika lieferte im Sommer die spektakulären TV-Bilder für die heimliche Urangst der Europäer, sie würden von hungernden und darbenden Afrikanern überrannt. Erst wenige Monate zuvor, im Herbst 2005, hatten ebenfalls illegale Einwanderer aus Afrika die Grenzzäune der spanischen Exklaven in Marokko, Ceuta und Melilla gestürmt.
Neben der humanitären Diskussion und der Frage, wie die illegale Einwanderung zumindest einzudämmen sei, taucht nun erstmals auch eine Sorge auf, die in Spanien bisher praktisch keine Rolle spielte: Wird die Welle der unerwünschten Ankömmlinge zu Fremdenfeindlichkeit führen?
In den Umfragen ist Immigration tatsächlich binnen kurzer Zeit auf Platz eins derjenigen Themen gerückt, über die sich die Spanier am meisten Sorgen machen. 48 Prozent, so zeigte es jüngst eine Erhebung, beschäftigt die Einwanderung inzwischen mehr als die Arbeitslosigkeit, bisher Sorge Nummer eins. Allerdings relativiert sich das Bild, sobald gezielter nachgefragt wird. "Welches sind die drei Probleme, die Sie persönlich am meisten betreffen?", wollte das Zentrum für Soziologische Studien (CIS) in Madrid wissen. Sofort rückt die Einwanderung auf Platz fünf nach Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichen Problemen, der Belastung durch Hypothekenkredite für den Wohnungskauf und die persönliche Sicherheit. Nur 13 Prozent der Spanier fühlten sich vom Thema Einwanderung betroffen. Dagegen fanden fast 78 Prozent der Befragten, die Immigranten sollten nach einer gewissen Zeit die spanische Staatsbürgerschaft annehmen dürfen. 73 Prozent sprachen sich für die Möglichkeit des Familiennachzugs aus.
"Die gestiegene Aufmerksamkeit hängt vielfach damit zusammen, dass das Thema eben ausführlich in den Medien und den politischen Debatten zur Sprache kommt", sagt Rafael Puyol, Immigrationsexperte an der Madrider Wirtschaftshochschule Instituto de Empresa (IE). "Eine Konfrontation mit der spanischen Bevölkerung droht erst dann, wenn der Strom der Einwanderer eines Tages nicht mehr vom Arbeitsmarkt aufgenommen werden kann", ist Richard Sandell vom Forschungsinstitut Real Instituto Elcano überzeugt.
Danach sieht es zumindest für die nahe Zukunft nicht aus. Für 2006 Jahr erwartet Spaniens Wirtschaftsminister Pedro Solbes ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von mindestens 3,4 Prozent. 2007 wird es den Schätzungen zufolge geringer ausfallen, aber immer noch weit über dem EU-Durchschnitt liegen. Solbes' Kollege aus dem Arbeitsministerium, Jesús Caldera, ist deshalb zuversichtlich, dass er Jahr um Jahr die Schaffung Hunderttausender neuer Jobs verkünden und die Arbeitslosenquote bald auf unter acht Prozent drücken kann. "Wenn das aktuelle Wachstum anhält, braucht Madrid bis zum Jahr 2010 eine halbe Million mehr Arbeitskräfte, und die Mehrheit von ihnen werden Ausländer sein", sagt auch der Minister für Arbeit und Frauen der Region, Juan José Güemes.
Konkurrenz zwischen Einheimischen und Einwanderern um einen Arbeitsplatz ist in Spanien also (noch) kein Thema. "Das Gegenteil ist der Fall", sagt Immigrationsexperte Puyol. "Sie entspannen den Arbeitsmarkt, indem sie Beschäftigungen annehmen, für die es keine anderen Bewerber gibt. Es gibt nicht mehr genügend Spanier, um die offenen Stellen auf dem Bau, in der Landwirtschaft, der Dienstleistungsbranche im Allgemeinen und im Haushalt im Speziellen sowie für die Pflege von alten und kranken Menschen zu besetzen."
Auch das Sozialversicherungssystem - in Spanien ebenso wie in Deutschland durch eine niedrige Geburtenrate und die Überalterung der Gesellschaft belastet - hat von der Einwanderung der vergangenen Jahre profitiert. Nahezu 45 Prozent der neuen Beitragszahler in den Jahren 2001 bis 2005 waren laut einer Studie der spanischen Großsparkasse La Caixa Ausländer.
Eine Untersuchung der Universidad Autónoma de Barcelona geht in ihrem positiven Kalkül sogar noch einen großen Schritt weiter: Ohne die Integration von 1,4 Millionen Frauen plus 3,3 Millionen Zuwanderer in den spanischen Arbeitsmarkt wäre demnach das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1995 und 2005 nicht um jährlich im Durchschnitt 2,6 Prozent gewachsen. Vielmehr wäre es pro Jahr um 1,1 Prozent gesunken. Allein durch den Verzicht auf 2,4 Millionen legal in Spanien lebende Ausländer hätte sich das Pro-Kopf-Einkommen jährlich um 0,6 Prozent reduziert.
Die Studie ist eine nachträgliche Rechtfertigung für die 2005 von der sozialdemokratischen Regierung in Angriff genommene Legalisierung von knapp 700.000 seit Jahren illegal auf Obstplantagen, Baustellen oder in Privathaushalten arbeitenden Ausländern. Dass er zuvor nicht das Einverständnis seiner EU-Kollegen eingeholt hatte, brachte Spaniens Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero heftige Kritik ein. Die Bereitschaft, das Problem der illegalen Einwanderung nun als europäische und nicht vordringlich spanische Angelegenheit zu betrachten, ist gering. Auch wenn Spanien nun verstärkt versucht, die Herkunftsländer zur Rücknahme der Illegalen zu bewegen. Frontex, die neu gegründete Agentur zur Grenzsicherung, kann dem Zustrom mit ihren geringen Mitteln kaum Einhalt gebieten. Und Zapatero trommelt bisher vergeblich im Verein mit Menschenrechtsorganisationen für die Ausweitung legaler Beschäftigungsmöglichkeiten für Einwanderer innerhalb der EU.
"Dass die Legalisierungsaktion im vergangenen Jahr auch Anwerbecharakter hatte, lässt sich schwer bestreiten", sagt IE-Profesor Puyol. Webseiten im Senegal oder in Mali beschreiben Spanien als sicheres Ziel, wo keine Abschiebung, wohl aber Arbeit und Einkommen warten. Eine weitere Legalisierung der vermutlich noch mehr als einer Million im Land lebenden Illegalen kann sich Spaniens Regierung politisch derzeit nicht leisten. Sie ohne Papiere zu beschäftigen, ist für Arbeitgeber strafbar. Und so bleibt für die, die nicht bald nach ihrer Ankunft wieder in ihre Heimatländer abgeschoben werden, oft nur ein Leben auf der Straße mit hier und da einem schlecht bezahlten Gelegenheitsjob. Und ein neidvoller Blick auf die, die es geschafft haben und nun auf dem Bau oder im Supermarkt arbeiten.
Die Autorin ist Korrespondentin der "Financial Times Deutschland" und lebt in Madrid.