Der alarmierende demographische Wandel war für Putin Ende Juni vergangenen Jahres der Anlass, ein Einwanderungsprogramm bekannt zu geben, mit dem der Kreml Russen im Ausland in die Heimat zurücklocken will. Es richtet sich vor allem an die russischsprachigen Minderheiten in den früheren Sowjetrepubliken, die Moskau gerne als „nahes Ausland“ bezeichnet. Es ist der hilflose Versuch der Moskauer Politik, Probleme des Bevölkerungsrückgangs, des Arbeitskräftemangels und der illegalen Einwanderung gleichzeitig zu lösen. Ob das Putin’sche Dekret aber den Herausforderungen des 21. Jahrhundert gewachsen ist, scheint vielen Experten eher zweifelhaft.
So bleibt relativ unklar, an wen sich das Programm des russischen Vielvölkerstaates eigentlich genau richtet. Nach Angaben des russischen Außenministeriums leben derzeit rund 25 Millionen Russen im Ausland, die Mehrheit von ihnen in den früheren Sowjetrepubliken.
In den Jahren 1988 bis 1998 verließen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Millionen von russischen Staatsbürgern angesichts von Wirtschaftskrise und drohenden Nationalitätenkonflikten ihr Land. Diese Entwicklung wurde in den vergangen Jahren nur teilweise durch den Zuzug von Russen aus den nun eigenständigen früheren Sowjetrepubliken ausgeglichen.
„Aber wer sind die Russen, die man heimholen will?“, zeigt sich der Russlandexperte Hans-Henning Schröder von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin skeptisch. „Sind damit ethnische Russen gemeint oder auch Georgier und Tschetschenen mit russischem Pass?“ Letztere Gruppe sieht sich derzeit einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit ausgesetzt.
Doch seit die russische Wirtschaft wieder im Aufwind ist, wird in der Diaspora erstmals auch wieder über Rückkehr in die alte Heimat nachgedacht. Vor allem unter denen, deren Träume vom Neuanfang in der Fremde sich nicht erfüllt haben. Doch wie viele es sind, die sich wirklich zur Rückkehr entschließen und neues Vertrauen in das neue Russland setzen, werden wohl erst die nächsten Jahre zeigen. „Eine Rückwanderung, die sich statistisch niederschlägt, ist nicht erkennbar“, sagt Schröder.
Im offiziellen Sprachgebrauch werden die Angehörigen der russischen Diaspora gerne als „Landsleute“ bezeichnet, die immer stärker mit umfangreichen Regierungsprogrammen zur Förderung der russischen Sprache und Kultur Unterstützung erfahren. So bat Putin Ende Oktober beim Moskauer „Weltkongress der Russen im Ausland“ die 600 Delegierten aus fast 80 Ländern in einer Ansprache um tatkräftige Unterstützung seines freiwilligen Rückwanderungsprogramms. Schon 2007 sollen 4,6 Milliarden Rubel aus dem Haushalt der Föderation bereitgestellt werden, um Umzugshilfen zu finanzieren, aber auch die Arbeitssuche und Schulwahl zu unterstützen. „Wir sind uns darüber im Klaren, dass die überwiegende Mehrheit der Russen und anderer ethnischer Gruppen aus der Russischen Föderation nicht im Ausland leben, weil sie es wünschen“, sagte Putin. „Wir werden alles dafür tun, denjenigen zu helfen, die in ihr Mutterland zurückkehren wollen.“
Als Ziele der Neuansiedlung sind nicht etwa die attraktive Hauptstadt Moskau oder die Newa-Metropole St. Petersburg im Blick, sondern zwölf Regionen wie Krasnojarsk, und Chabarowsk, Primorski Kraj und Amur, Irkutsk und Kaliningrad. „Wir müssen von den Realitäten ausgehen, in denen wir leben. Vor allem geht es um die Rückkehr unserer Landsleute in solche Territorien des heutigen Russland, die akut Arbeitskräfte brauchen“, begründete Putin die Auswahl der größtenteils entlegenen Grenzregionen in einer Livesendung mit russischen Bürgern. „Das Niveau des Umzugsgeldes wird vom Bedarf der Regionen an Arbeitskräften abhängen. Dort, wo der Bedarf besonders groß ist, wird auch das Umzugsgeld höher sein.“ Doch es ist fraglich, ob Putins Programm auf diese Weise überhaupt Widerhall findet.
So startete das russische Programm der Deutschen Welle in seiner Sendung „Chronik des Tages“ eine mehrteilige Serie, in der die Korrespondenten zahlreiche Angehörige der russischen Minderheit in den früheren Sowjetrepubliken nach ihrer Meinung fragten. „Man hat einfach nur gelacht“, fasst der Redakteur Pawel Los das Ergebnis der Recherchen zusammen. „In Zentralasien hat man vielleicht etwas weniger gelacht.“
Tatsächlich gebe es in den drei baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen, die seit 2004 der EU angehören, trotz der Diskriminierung der großen russischen Minderheiten keine breite Bewegung zurück nach Russland. „Die haben heute europäische Pässe und wer abreisen wollte, ist sowieso schon längst gegangen“, sagt Los. Auch aus Moldawien und der Ukraine, wo Tausende als Gastarbeiter in Russland tätig sind, und selbst in den fünf zentralasiatischen Staaten wolle kaum jemand in die Russische Föderation umsiedeln. „Warum sollte jemand aus dem warmen Moldawien ins kalte Sibirien ziehen?“ Auch aus den zentralasiatischen Republiken seien diejenigen, die gehen wollten, schon lange fortgezogen.
Nach Einschätzung der russischen Zeitung „Kommersant“ sagen Experten bereits ein Scheitern des Programms voraus. „Statt Probleme in den Regionen zu lösen, schaffen die Behörden eine Menge neuer Probleme. Die Regionen haben nicht das Geld, um so viele Leute aufzunehmen“, zitiert das Blatt den Direktor des Instituts für GUS-Länder, Konstantin Satulin. „Es gibt keinerlei Öffentlichkeitsarbeit für das Programm in der GUS. Keiner weiß davon. Deshalb ist es kein Wunder, dass bisher so wenig Anträge gestellt wurden.“
Auch im „Mutterland“ seien die Neueinwanderer vielerorts keineswegs erwünscht, schreibt „Kommersant“. Die meisten der vorgesehenen Regionen seien nicht bereit, Landsleute aufzunehmen und böten auch keine Förderung. So wünsche die größte Stadt Sibiriens, Nowosibirsk, keine Zuwanderer. „Wir haben Wohnungsmangel und viele andere Probleme“, zitiert das Blatt ablehnende Äußerungen von Gouverneur Wiktor Tolonskij. Auch die sibirische Stadt Chabarowsk an der Grenze zu China wolle nur 2.000 Leute aufnehmen, obwohl die Bundesbehörden gerade die strategische Bedeutung der Entwicklung von Fernost so betonen.
Allein im isoliert gelegenen Kaliningrad (ehemals Königsberg) sind Neuankömmlinge offenbar willkommen. So sagte der Gouverneur, Georgi Boss, der Zeitschrift „Kommersant Wlast“, eine Baugesellschaft habe sich bereit erklärt, Wohnungen für 10.000 zukünftige Mitarbeiter zu bauen, die über das Einwanderungsprogramm angeworben werden könnten. In der Sonderwirtschaftszone fehlt es vor allem in der Bauwirtschaft, aber auch in der Industrie an qualifizierten Arbeitskräften. Selbst für Hilfsarbeiten finden viele Firmen nicht mehr genügend Leute. Bei seinem Amtsantritt zeigte sich Gouverneur Boos noch optimistisch, dass die Bevölkerung seines Gebietes sich innerhalb der nächsten zehn Jahre verdoppeln könnte. Doch von einer Einreisewelle ist auch hier bislang wenig zu spüren. Böse Zungen in Russland sagen bereits: „Eigentlich will der Kreml am liebsten weiße, christliche Russen wieder ins Land locken, aber die lassen sich eben nicht plötzlich herbeizaubern.“