Auf Pekings bekanntester Vergnügungsmeile, der Sanlitunstraße, bauen die Arbeiter gerade einen riesigen neuen Hotel- und Einkaufskomplex für die Olympiatouristen des Jahres 2008. Um Punkt zwölf Uhr stellen sie sich mit einer weißen Blechschale in der Hand vor einem kleinen Bus auf. In dem Bus sind zwei große Töpfe aufgebaut: einer mit Reis, der andere mit Gemüse. Die Arbeiter holen sich zwei Blechkellen voll ab und hocken sich dann auf den Bürgersteig zum Mittagessen. Dabei können sie zusehen, wie sich die trendy gekleidete Hauptstadt-Schickeria in den Cafés auf der anderen Straßenseite westliche Salate und französischen Wein genehmigt. "Das ist an sich nicht schlimm", meint einer der Arbeiter. Er trägt ein braunes Unterhemd unter der blauen Arbeitsjacke. "Schlimm sind nur die abfälligen Blicke."
Der Mann teilt sein Schicksal mit Millionen Migranten in ganz China. Wie es einst Italiener, Portugiesen und Türken im befriedeten Nachkriegseuropa als Gastarbeiter nach Deutschland, Holland und Schweden zog, wandern heute Sichuaner, Mandschu und Gansuer in einer von der Planwirtschaft befreiten Volksrepublik in die großen Metropolen und reichen Küstenprovinzen Chinas aus. Die Rede ist von der größten Völkerwanderung aller Zeiten, die nur deshalb nicht so auffällt, weil sie innerhalb der Grenzen eines Staates stattfindet. Doch sind Mühe und Aufwand für die betroffenen Migranten deshalb nicht geringer.
Viele von ihnen müssen eine Reise über mehrere Tausend Kilometer und verschiedene Klimazonen zurücklegen. Chinas Fläche beträgt 9,6 Millionen Quadratkilometer und ist damit nur unwesentlich kleiner als der europäische Kontinent. Eine Reise von der armen Wüstenprovinz Xinjiang in die Industriegebiete Guangzhous nahe Hongkongs ist nicht nur rund 3.000 Kilometer lang. Sie führt auch von trockenem, subarktischem Klima in die feuchten Tropen. Und nicht nur geografische Hürden müssen die Wanderarbeiter überbrücken. Jede von Chinas 32 Provinzen, autonomen Regionen und Stadtverwaltungen verfügt über eine eigene Kultur und eigene Sprachen. Ein Chinese aus einem kleinen Dorf im nordöstlichen Gansu kann das Chinesisch im südwestlichen Guangzhou kaum verstehen. Die Migranten sind deshalb Fremde im eigenen Land.
Dennoch ist ihre Zahl in den vergangenen 15 Jahren explodiert. Den Anstoß gab einst Chinas bekanntester Wirtschaftsreformer: Deng Xiaoping setzte mit seiner berühmten "Reise in den Süden" im Jahr 1992 das Beispiel, dem seither Abermillionen gefolgt sind. Waren es 1994 noch 40 Millionen Wanderarbeiter in ganz China, haben sie sich heute auf knapp 200 Millionen verfünffacht, und jedes Jahr kommen weitere 13 Millionen hinzu.
Im Vergleich dazu erscheint die chinesische Emigration ins Ausland eher gering, obwohl ihre Bedeutung nicht im Verhältnis zu den Zahlen steht. Eine ganz besondere Stellung nehmen etwa die 650.000 Chinesen ein, die zwischen 1978 und 2005 im Ausland studierten. Viele von ihnen besetzen seit ihrer Rückkehr nach China Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft. Insgesamt leben und arbeiten heute etwa 50 Millionen Chinesen in 160 Ländern, der größte Teil von ihnen schon in dritter Generation. Als neues Phänomen kommt die Immigration nach China hinzu, meist aus Ländern Südostasiens, in denen die Löhne geringer sind als in der Volksrepublik. Inzwischen zählt China 510.000 solcher Gastarbeiter.
Die Hauptmigration aber findet innerhalb der Grenzen Chinas statt - zwischen bitterarmen Bauernprovinzen im Westen und boomenden Industrieregionen im Osten Chinas. Dabei ist die Migration ein Motor der landesweiten Wohlstandsmehrung, vor allem aber ein wichtiger Faktor des sozialen Ausgleichs zwischen Arm und Reich. Jeder chinesische Wanderarbeiter sandte im Jahr 2000 rund 4500 Yuan (450 Euro) zurück in sein Heimatdorf. Jährlich transferieren die Migranten umgerechnet 62,2 Milliarden Euro in die ärmeren Provinzen und steigern damit deren Einkommen beträchtlich. Straßen, Strom- und Kabelleitungen baut zwar die Regierung; Fernseh- und Haushaltsgeräte aber schleppen Wanderarbeiter in vollbesetzten Zügen zum Neujahrsfest nach Hause.
Viele von ihnen beginnen schon in jungen Jahren mit der Knochenarbeit. "Ich war 15 Jahre alt, als ich mein Heimatdorf verließ, um in Guangzhou zu arbeiten", sagt die ehemalige Textilarbeiterin Zhang aus Shenzhen. Ihren Fall schildert ein Bericht der Hongkonger NGO China Labour Bulletin. Die heute 21-Jährige Zhang erlebte eine Odyssee, in der sie ständig den Arbeitsplatz wechselte, "weil entweder die Bezahlung schlecht war oder die Bedingungen zu hart". In der Tat arbeiten Fabrikarbeiter wie sie im Schnitt zwölf bis 14 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Und das, obwohl das chinesische Arbeitsrecht eine 40-Stunden-Woche mit mindestens einem freien Tag vorschreibt. Viele Fabrikherren zwingen die Arbeiter zu Überstunden, und wer krank wird oder sich gar weigert, muss eine "Strafgebühr" zahlen.
Doch warum opfern junge Menschen Dorfschule und Jugend für ein Leben in der Fabrik? Zhangs Antwort könnte von vielen stammen: "Meine Schulnoten waren eigentlich ganz gut. Doch meine Eltern sind sehr arm, und mein Bruder kam damals ins Heiratsalter. Er brauchte Geld, um eine Familie zu gründen. Da entschied ich mich zu arbeiten, um ihnen zu helfen."
Ständige Geldsendungen wie die von Zhang an ihre Familie haben das Pro-Kopf-Einkommen in ihrer Heimat verdreifacht. Insgesamt zeichneten Wanderarbeiter laut einer Untersuchung der Unesco und der Pekinger Akademie für Sozialwissenschaften für 16 Prozent des chinesischen Wirtschaftswachstums der vergangenen 18 Jahre verantwortlich. Sie waren es, die Schanghais Glitzerfassaden, Pekings mondäne Büroanlagen oder Shenzhens Industrieparks im Akkord hochzogen und damit für die leuchtenden Augen westlicher Investoren sorgten. Ein Ende ihrer Mühen ist nicht in Sicht. Sie arbeiten auf Baustellen, in Minen und Fabriken, Restaurants und Supermärkten zu minimalen Löhnen. Sie müssen dabei nicht nur die Herablassung der Einheimischen, sondern auch katastrophale Arbeitsbedingungen und monatelange Lohnausfälle ertragen.
Tatsächlich warten Chinas Wanderarbeiter heute auf rund 100 Milliarden Yuan (10 Milliarden Euro) an Lohnzahlungen. Nach dem Nationalen Wirtschaftsforschungsinstitut wurden allein 2005 insgesamt 20 Milliarden Yuan (2 Milliarden Euro) nicht ausbezahlt. "Gerechtigkeit muss uns helfen, die Früchte unseres Schweißes zu erlangen", stand daher auf Plakaten bei einer Protestaktion von Pekinger Wanderarbeitern. Sie wurde vom Allchinesischen Gewerkschaftsbund (All-China Federation of Trade Unions, ACFTU) organisiert, um deren Löhne einzufordern - mit Erfolg. Als offizielle Gewerkschaft arbeitet der ACFTU zwar von Gnaden der Partei, hat von ihr jedoch neuerdings auch den Auftrag, sich für die Belange der bislang vernachlässigten Wanderarbeiter einzusetzen. So konnte der Bund im Jahr 2005 immerhin Lohnforderungen über 1,31 Milliarden Yuan (131 Millionen Euro) von über 2,8 Millionen Wanderarbeiter durchsetzen. "Die chinesischen Gewerkschaften haben die Herausforderung angenommen, die Arbeitskraft (der Migranten, d.R.) zu organisieren und zu repräsentieren", sagt Sun Chunlan, Vize-Chef des ACFTU.
Neben nicht bezahlten Löhnen ist die Sicherheit am Arbeitsplatz ein zentrales Thema für Chinas Wanderarbeiter. Allein in Peking starben zuletzt jährlich rund 2.000 Bauarbeiter bei Arbeitsunfällen. Dem will die Regierung nun entgegenwirken. Waren vor zwei Jahren nur zwei Prozent der Bauarbeiter in Peking unfallversichert, sind Unfallversicherungen "heute schon fast üblich", berichtet Ma Yang, stellvertretender Leiter der unabhängigen Wanderarbeiter-Organisation "Xiaoxiaoniao" (übersetzt: "kleines Vögelchen"). Mas kleine Organisation finanziert sich größtenteils mit ausländischen Spenden und prangert seit Jahren die Benachteiligung der Wanderarbeiter an. Umso erstaunlicher ist sein Urteil: "Wir haben schon lange keine Fälle mehr, in denen Wanderarbeiter mit ihren Arbeitgebern um Entschädigungen bei Arbeitsunfällen streiten. Die Regierung hat vorgeschrieben, dass die Baufirmen die Wanderarbeiter gegen Unfälle versichern und kontrolliert das sehr streng", sagt Ma.
Doch ist das nur ein Anfang auf dem langen Weg zur Gleichstellung der Migranten. Ma erzählt von einer neuen Regelung in der nordchinesischen Provinz Liaoning, die im Oktober in Kraft trat. Demnach sollen dort Wanderarbeiter die gleichen Rechte wie Stadtbürger erhalten. Ihnen soll der Beitritt zur Sozial- und Krankenversicherung ebenso zugesichert werden wie das Anrecht auf eine Schulbildung für ihre Kinder. Außerdem sollen sie nicht mehr "Bauernarbeiter" (Nong Min Gong), sondern "Neue Stadtbürger" (Xin Shi Min) heißen. Der propagandistische Versuch, den Terminus "Bauernarbeiter" aus dem Volksmund zu streichen, zeugt indessen von Chinas neuer urbaner Zwei-Klassen-Gesellschaft.
Noch immer brauchen Migranten Aufenthaltsgenehmigungen für ihre Wohnsitz-Registrierung in der Stadt. Die aber sind schwer zu bekommen. Denn in China unterscheidet das System zwischen Landbewohnern, die Anrecht auf ein Stück Land zur Bewirtschaftung haben, und Stadtbewohnern, die das Recht auf Sozialversicherung und gebührenfreien Schulunterricht für ihre Kinder haben. Die Städter sind damit besser bedient, folglich möchte jeder Landbewohner gerne ein Stadtbürger sein. Das ist der Punkt, wo die Gleichstellung im System versagt. Dem Run von Chinas ländlicher Bevölkerung aus dem Hinterland in die reichen Küstenstädte aber tut dies keinen Abbruch. Bis 2020 rechnet die Unesco mit einem Anstieg der Migrantenzahl in China auf 300 Millionen.
Georg Blume ist Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit" und der "tageszeitung" in Peking. Babak Tavassolie ist Politikwissenschaftler für Ostasien und arbeitet zurzeit als freier Autor in Peking.