Im vergangenen Herbst hat die Nation in den Nachrichten verfolgen können, wie die deutschen Innenminister sich in quälenden Nachtsitzungen über die Frage stritten, wie mit denjenigen Migranten in Deutschland zu verfahren sei, die hier bereits seit etlichen Jahren mit dem Aufenthaltsstatus der Duldung leben. Fast täglich berichten die Medien über große Zahlen von irregulären Migranten, die - tot oder lebendig - an den Küsten Südeuropas stranden. So gut wie nie aber hört man, dass Migranten weltweit an eben jedem dieser Tage, also 365 Mal im Jahr, rund 800 Millionen US-Dollar an ihre daheim gebliebenen Familien überweisen. Die internationalen Finanzinstitutionen aber, an der Spitze die renommierte Weltbank, und Entwicklungspolitiker auf der ganzen Welt stellen fest, dass diese gewaltigen, kontinuierlichen Finanzströme einen wesentlichen Beitrag zur Minderung der Armut leisten und manches Land vor dem finanziellen Kollaps bewahren. Gleichzeitig sorgen die Innenpolitiker von immer mehr Ländern dafür, dass an den Grenzen der Wohlstandsregionen dieser Welt immer aufwendigere Abwehrsysteme installiert werden. Ein wahrhaft verwirrendes Szenario, das den Eindruck von Ratlosigkeit und Inkohärenz vermittelt und die Dringlichkeit eines koordinierten Managements von Migration im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten aufzeigt.
Zunächst lohnt sich jedoch ein Blick auf die Fakten. Die Weltbank hat in einem viel beachteten Bericht im Jahr 2003 zum ersten Mal auf die Bedeutung der Rücküberweisungen hingewiesen. Die zu diesem Zeitpunkt noch sehr mangelhafte statistische Datenerhebung des Internationalen Währungsfonds, die die Zahlen der Zentralbanken zusammenfasst, wies Rücküberweisungen von 73 Milliarden US-Dollar an Entwicklungsländer aus. Für das Kalenderjahr 2006 wird mit einem Betrag von knapp 200 Milliarden US-Dollar gerechnet. Das bedeutet fast eine Verdreifachung innerhalb von nur drei Jahren. Diese exorbitante Steigerung mag zum Teil auf der sorgfältigeren Datenerhebung beruhen. Zu einem bedeutenderen Teil jedoch lässt sich diese mit der Zunahme der Migration aus Entwicklungsländern in entwickelte Länder erklären. Zu diesen formellen, statistisch einigermaßen genau erfassbaren Übertragungen kommen informelle Überweisungen hinzu. Also alle die Beträge und Güter, die von den Migranten selbst über die Grenze transportiert oder anderen mitgegeben werden. Konservative Schätzungen beziffern diese auf etwa 50 Prozent der formellen Übertragungen. Die Rücküberweisungen erreichen also weltweit eine Summe von circa 300 Milliarden US-Dollar. Dieser Betrag entspricht den Direktinvestitionen mitsamt der öffentlichen Entwicklungshilfe weltweit. Deutschland steht als Herkunftsland von Rücküberweisungen hinter den USA und Saudi-Arabien an dritter Stelle.
Allein die schiere Größe dieses Finanzstroms hat dafür gesorgt, dass das Interesse von Politik und Wissenschaft sich verstärkt auf eine zuverlässigere Datensammlung und auf die Auswirkungen insbesondere auf die Empfängerländer gerichtet hat. Im Jahr 2004 befasste sich sogar der G8-Gipfel in Sea Island mit der entwicklungspolitischen Bedeutung dieser Finanzflüsse.
Die Wechselwirkungen zwischen Migration, Rück-überweisungen und der wirtschaftlichen Entwicklung in den Emigrationsländern sind in Wissenschaft und Politik immer umstritten gewesen, und die entwickelten Theorien zeichnen sich auch heute noch durch Einseitigkeit aus: Entweder konzentrieren sie sich auf die Folgen der Migration oder allein auf die der Rück-überweisungen. Dementsprechend kommen diese Theorien zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen.
Diejenigen, die sich mit den Primärwirkungen der Migration befassen, begreifen Migration als Verlust von Humankapital und Produktionspotenzial. Es entstehe ein Teufelskreis, da die Schwächung der Wirtschaftskraft zu weiterer Migration führe und so weiter. Die andere Theorie, die sich auf die Wirkungen der Rücküberweisungen konzentriert, verweist darauf, dass die Wirtschaftskraft der Familien gestärkt und damit produktive Kräfte freigesetzt würden. Welche dieser beiden entgegengesetzten Beurteilungen trifft nun zu?
Bisherige Forschungen haben sich bei der Suche nach den Wirkungen viel zu sehr auf die individuelle Ebene des Migranten konzentriert. Dabei wird übersehen, dass es in den meisten Fällen nicht ein Individuum ist, das die Wanderungsentscheidung trifft, sondern die Familie. Diese bringt oft auch die dafür erforderlichen Mittel auf und erhält als Gegenleistung Rücküberweisungen.
Manche Analysten meinen, dass bei einer produktiven Verwendung der Rücküberweisungen durch die Empfänger die Wirkungen positiv seien, nicht dagegen bei einer konsumtiven Verwendung. Die Grenze zwischen konsumtiven und produktiven Ausgaben lässt sich jedoch nur schwer bestimmen, zum Beispiel bei Ausgaben für Gesundheit und Ausbildung. Die Unterscheidung erweist sich darüber hinaus als irreführend, weil sie davon ausgeht, dass es unbedingt die Migrantenfamilie selbst sein muss, die produktive Investitionen vornimmt. In Wirklichkeit ist es aber oft so, dass gerade die konsumtiven Ausgaben - zumindest wenn sie für lokal produzierte Güter ausgegeben werden - produktive Investitionen der Anbieter dieser lokalen Produkte generieren. Das Ausmaß dieser Effekte hängt allerdings stark von den Investitionsbedingungen in der Region ab. Je besser diese sind, umso stärker reagiert die Investitionstätigkeit auf die erhöhte Nachfrage. Wegen der hohen Komplexität der Wirkungen von Migration wird man daher bei der Frage nach den entwicklungspolitischen Wirkungen untersuchen müssen, wie sich eine Region oder ein Land ohne Migration entwickelt hätte. In den meisten Fällen wird man dann feststellen, dass der Verlust von Humanressourcen nur bei den Hochqualifizierteren eine negative Rolle spielt. Der Verlust von gering Qualifizierten spielt hingegen ökonomisch kaum eine Rolle, weil diese in großer Zahl vorhanden sind. In einer solchen Konstellation wird sich die Migration sowohl auf der Ebene der Familien als auch auf der Ebene des Landes immer vorteilhaft auswirken. Für die Familien bedeutet die Auswanderung eines Teils ihrer Mitglieder eine verhältnismäßig verlässliche Einnahmequelle, eine Art Versicherung gegen die für Entwicklungsländer typischen politischen und wirtschaftlichen Risiken. Auswanderung ermöglicht darüber hinaus den Zugang zu einem Startkapital für Geschäftsgründungen. Begrenzt werden die Gewinne aus der Migration gewöhnlich durch schlechte wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen, eben die Umstände, die auch für die Migration verantwortlich waren.
Aus einem solchen Migrationsregime können freilich in ungünstigen Fällen neue sowohl familiäre als auch staatliche ökonomische Abhängigkeiten entstehen. Wenn - wie berichtet - ein großer Teil der arbeitsfähigen Männer aus einem ägyptischen Dorf in den Golfstaaten arbeitet und die Zurückgebliebenen es deshalb gar nicht mehr nötig haben, eigene Einkommensquellen zu schaffen, oder wenn ein Land so hohe Deviseneinnahmen aus den Rücküberweisungen hat, dass der Aufbau eines wettbewerbsfähigen Unternehmenssektor nicht mehr vordringlich ist, werden die Bedingungen für eine eigene nachhaltige Entwicklung immer schwerer herzustellen sein. Die Aufrechterhaltung stetiger Migrationsströme, seien sie regulärer oder irregulärer Natur, wird dann für die Familien und die Länder zu einer Überlebensfrage.
Dr. Hans Werner Mundt ist Berater bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und Leiter des Projekts "Migration und Entwicklung".