Samuel Huntington, Politologe an der angesehenen Harvard Universität, sieht in dem Immigrantenstrom aus Lateinamerika und vom asiatischen Kontinent eine Bedrohung für die anglo-protestantischen Traditionen des Landes. Nicht wenigen geht es eher um eine Bedrohung anderer Art: den Terrorismus. Eine allzu durchlässige Grenze sei ein Einfallstor für Bösewichte, die Amerika Schaden zufügen wollen, lautet das Argument in diesem Zusammenhang. Zum Teil aus dieser Sorge heraus hat der amerikanische Präsident George Bush kürzlich ein Gesetz unterzeichnet, das die Errichtung eines 700 Meilen langen Zauns an der 2.100 Meilen langen Grenze zum Nachbarn Mexiko vorsieht.
Bush hofft, dass dieses Gesetz den Weg ebnet für eine umfassende Neuregelung des Einwanderungsrechts. Die Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse im Kongress muss für die Reform kein Nachteil sein. Unter den Demokraten in Senat und Repräsentantenhaus finden sich nicht wenige, die Bushs Plan für ein Gastarbeiterprogramm als Teil eines Pakets unterstützen. Denn im Kern der Debatte und des politischen Streits geht es um die ökonomischen Wirkungen der Einwanderung: 1,12 Millionen Ausländer haben 2005 von der amerikanischen Regierung die heiß begehrte "Green Card" erhalten, die dauerhafte Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Rund zwölf Millionen Menschen halten sich illegal im Land auf. Auf diese "undokumentierten Arbeiter" ist der Zorn vieler Amerikaner gerichtet. Häufig zu hören ist der Vorwurf, die Illegalen nähmen fleißigen, rechtschaffenen Bürgern den Arbeitsplatz weg oder drückten zumindest die Löhne auf ein unzumutbar geringes Niveau.
Die ökonomischen Fakten stützen dieses Argument und die daraus abgeleiteten Forderungen nicht: Nur selten stehen die Einwanderer - auch nicht die Illegalen - in direkter Konkurrenz zu Amerikanern. Vielmehr schließen sie Lücken auf dem Arbeitsmarkt, die sich mit Amerikanern nicht füllen lassen. Das Netz staatlicher Fürsorge ist in den Vereinigten Staaten in größeren Maschen geknüpft als in Deutschland, doch reicht der Schutz immer noch aus, um Amerikaner von einer Reihe von Beschäftigungsverhältnissen abzuhalten. Das betrifft insbesondere jene mit einem geringen Bildungsstand. Es sind häufig die illegalen Immigranten - die meisten von ihnen stammen aus Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern -, die als Kellner und Küchenhilfen, als Gärtner und Hilfskräfte am Bau arbeiten. Davon profitieren viele Amerikaner, die diese Leistungen sonst gar nicht oder nur zu einem höheren Preis erhalten könnten.
Profiteure der Wanderung sind ohne Zweifel nicht zuletzt die Einwanderer: Der gesetzliche Mindestlohn von 5,15 Dollar in der Stunde ist für amerikanische Verhältnisse gering. Die Perspektiven in ihren Heimatländern werden aber von den Immigranten noch düs-terer wahrgenommen. Und die harte Arbeit in der Fremde zahlt sich aus: Mexikanische Einwanderer und Gastarbeiter in Amerika haben 2005 Jahr rund 20 Milliarden Dollar an ihre Familien in Mexiko überwiesen. Die Immigranten leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Armut in ihren Herkunftsländern.
Machte Amerika seine Grenzen mehr oder weniger dicht, so versperrte es nicht nur vielen Menschen den Weg aus der Armut, es bräche auch mit seiner eigenen Tradition. Schließlich wurde das Land gegründet und geformt von Einwanderern, die sich ein Leben in Freiheit und Chancengleichheit wünschten. Rund 60 Millionen Menschen sind seit 1820, dem Jahr, in dem zum ersten Mal darüber Buch geführt wurde, in die Vereinigten Staaten eingewandert. Anders als zu früheren Zeiten stammen die heutigen Immigranten nicht mehr vorwiegend aus Europa. Sie kommen aus Lateinamerika, vor allem aus dem benachbarten Mexiko, und aus Asien. China und Indien rangieren auf der Liste jener Länder, deren Bürgern eine dauerhafte Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, an zweiter und dritter Stelle. Im Jahr 2005, so weist es die Statis-tik des Heimatschutzministeriums aus, erhielten 1.122 373 Ausländer eine "Green Card". Zwei Drittel von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt schon in den Vereinigten Staaten, beispielsweise aufgrund eines befristeten Arbeitsvisums. 14 Prozent der neuen Green-Card-Besitzer stammen aus Mexiko, acht Prozent aus Indien und sechs Prozent aus China.
Beim nördlichen Nachbarn der Vereinigten Staaten, Kanada, weht ein etwas anderer Wind. Zwar gibt es auch hier Befürchtungen, eine allzu freizügige Politik der Zuwanderung berge die Gefahr, auch Terroristen ins Land zu lassen. Die Politik der konservativen Regierung von Premierminister Stephen Harper aber zielt vor allem darauf, durch eine geregelte Einwanderung - und auch durch Gastarbeiter - Engpässe auf dem kanadischen Arbeitsmarkt zu überwinden. "Nicht ein Tag ist seit meinem Amtsantritt vergangen, an dem ich nicht davon gehört hätte, dass ein Mangel an verfügbaren Arbeitskräften das kanadische Wachstum aufzuhalten droht", sagte Einwanderungsminister Monte Solberg im vergangenen Sommer, als er die Schaffung zweier Vermittlungszentren für hochqualifizierte ausländische Gastarbeiter ankündigte. Kürzlich hat die Regierung zusätzliche Hilfe bei der Identifizierung jener Berufsgruppen angekündigt, bei denen in den wirtschaftlich schnell wachsenden Provinzen Alberta und British Columbia ein besonderer Mangel herrscht. Verschiedene Maßnahmen sollen dazu beitragen, dass kanadische Unternehmen viel schneller als bisher Gastarbeiter ins Land holen können. Denn die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nach Jahren des kraftvollen Wachstums angespannt. Im Mai und Juni 2006 wurde die Arbeitslosenquote mit 6,1 Prozent berechnet, dem geringsten Niveau seit 32 Jahren. Derzeit liegt sie nur wenig darüber bei 6,2 Prozent.
Kanada zählt traditionell zu den aufnahmefreundlichsten Ländern in der Welt. Einwanderer haben seine Gesellschaft und Kultur geprägt. Zwar wurde über die meiste Zeit des vergangenen Jahrhunderts die Einwanderung streng gehandhabt - nur Immigranten aus Europa waren zugelassen. Eine Reform des Einwanderungsgesetzes 1976 aber hob diese ethnischen Beschränkungen auf. Seither kommen Menschen aus aller Welt nach Kanada, insbesondere aber aus asiatischen Ländern wie China, den Philippinen und Indien. Auch Pakistan, Iran, Großbritannien und die Vereinigten Staaten stehen auf der Liste der Herkunftsländer weit oben. In den vergangenen zehn Jahren erhielten jeweils rund 200.000 Ausländer die Permanent Resident Card (PRC), eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. In diesem Jahr sollen es mindestens wieder ebenso viele sein.
Kanada unterscheidet in seiner Einwanderungspolitik grob drei Kategorien: Das größte Kontingent von PRC wird an jene Ausländer ausgegeben, die der kanadischen Wirtschaft von Nutzen sein können. Die Auswahl stützt sich auf Kriterien wie den Bildungsstand, Berufserfahrung und Sprachkenntnisse (Englisch oder Französisch) der Bewerber. Weil auch in Kanada das produzierende Gewerbe an Bedeutung verliert, haben Ausländer mit Fähigkeiten, die auf eine größere Zahl von Beschäftigungen anzuwenden sind, bessere Aussichten als Fachkräfte für bestimmte Tätigkeiten. Auf diese Klasse entfällt rund die Hälfte aller jährlich vergebenen PRC. Die zweite Kategorie der Aufenthaltserlaubnisse dient der Familienzusammenführung. Dabei handelt es sich vor allem um Ehepartner und Kinder von Ausländern, die sich bereits mit einer gültigen PRC in Kanada aufhalten. Die kleinste Gruppe von Immigranten sind die Flüchtlinge. Außerdem bietet Kanada auch Geschäftsleuten einen Weg zur Einwanderung. "Kanada ist an der Einwanderung von erfolgreichen Unternehmern interessiert, die mit ihren Fähigkeiten und ihrem Know-how einen Beitrag zum wirtschaftlichen und kulturellen Wohl Kanadas sowie zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leisten", heißt es vom kanadischen Außenministerium. Sowohl Investoren als auch Unternehmer und Selbstständige haben unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu bekommen.
Kanada stellt zwar eine Reihe von Anforderungen an seine Einwanderer, nimmt sie aber dann großherzig auf: Immigranten erhalten Sprachschulungen und Zugang zum staatlichen Gesundheitswesen und den Sozialversicherungen. Nicht ohne Sorge verfolgt die Regierung in Ottawa Berichte darüber, dass einige Einwanderer seit den 90er-Jahren nicht mehr an die wirtschaftlichen Erfolge der Immigranten aus den 80er-Jahren anknüpfen konnten. Rund 340.000 Immigranten, so schätzt die kanadische Analysegesellschaft Conference Board, arbeiten unterhalb ihres Qualifikationsniveaus. Dadurch entgingen ihnen rund 4 Milliarden Dollar an Löhnen und Gehältern jährlich. "Das Problem reicht wahrscheinlich tiefer als nur bis zu einem Missverhältnis der Qualifikationen", vermutet Elisabeth Smick vom Council on Foreign Relations in New York, die die Einwanderungspolitik Kanadas kürzlich genauer untersucht hat. Sie verweist auf Daten des nationalen Statistikamtes, wonach das Einkommen von in Kanada geborenen Einwandererkindern tendenziell höher liegt als das ihrer Eltern; das treffe aber vor allem auf Immigranten europäischer Herkunft zu. Nichtweiße Kanadier hätten zweimal häufiger als Weiße ein verhältnismäßig niedriges Einkommen, sagt Smick. Zuversichtlich stimme allerdings, dass in der zweiten und dritten Generation Einwanderer über einen mindestens durchschnittlich hohen Bildungsstand und dementsprechend über dieselben Einkommenschancen verfügten wie alle anderen Kanadier. Generell gilt, dass Einwanderer relativ schnell eine Beschäftigung finden. Rund 70 Prozent von ihnen bekommen innerhalb des ersten halben Jahres einen Arbeitsplatz.
Claus Tigges ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Washington.