Afrikas Realität ist eine andere. Kein Kontinent ist so sehr ein Kontinent der Wanderung wie dieser. Die Geschichte Afrikas ist eine vom ständigen Aufkommen und Verschwinden mächtiger Staaten, ein permanenter Wechsel von Machtverhältnissen. Die kleinen Dörfer in der Savanne sind nicht beständig, man kann die Hütten abreißen und an anderer Stelle wieder aufbauen, oder auch ganz woanders hingehen. Was heute als Tradition daherkommt, würden die Großeltern der heutigen Afrikaner nicht wiedererkennen. Und gerade das beständigste Element der afrikanischen Gesellschaft - der Wechsel von Trocken- und Regenzeiten - ist ein Motor der Veränderung, der Menschen auf Wanderung schickt und ständige Anpassung an neue Bedingungen erfordert. Afrika ist ein Kontinent der Vergänglichkeit.
Migration innerhalb Afrikas ist so alt wie der Kontinent selbst, und nur die willkürliche Grenzziehung der weißen kolonialen Eroberer hat überhaupt aus natürlichen Wanderbewegungen unnatürlich erscheinende Bevölkerungsverschiebungen gemacht. Die koloniale Ära pflügte Afrika um. Die alten Staatswesen verschwanden, neue Regierungen schufen mit Gewalt neue Lebenszusammenhänge. Wanderung vom Binnenland an die der Außenwelt zugewandte Küste, von ländlichen Gegenden in die neuen Städte, von Gebieten der Subsistenzwirtschaft in Zonen der Geldwirtschaft ergriff in den 50 Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Unabhängigkeitsperiode der 60er-Jahre die Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung. Dieser Wandel prägt bis heute den Veränderungsrhythmus des Kontinents.
In Westafrika war das prägende Element dieser Umwälzung der Zug von der trockenen Sahelzone in die Küstengebiete mit ihren neuen metropolitanen Verwaltungs- und Handelszentren, die die Ausrichtung nach Übersee an die Stelle der alten transafrikanischen Handelsrouten setzten. In den 20er-Jahren lebten noch zwei Drittel der Bevölkerung der Region im Binnenland und ein Drittel in Küstennähe, in den 70er-Jahren waren es jeweils rund 50 Prozent, und heute sind die Bevölkerungen der Küstengebiete in der Mehrheit. Dies bringt tiefgreifende, bis jetzt nicht vollendete politische Mutationen mit sich, und zwar auch in anderen Teilen des Kontinents. Die meisten Demokratierevolten im modernen Afrika gingen von Wanderbevölkerungen aus: saisonale Arbeiter in den Großstädten, unzufriedene Belegschaften in Bergbaurevieren, entwurzelte Landbevölkerungen in ökologischen Krisengebieten, die sich in den bestehenden Machtsystemen nicht wiedererkennen.
"Neue" nationale Identitäten in postkolonialen Staaten, die mit alten ethnischen Zuordnungen brechen, sind meist in schnell wachsenden Metropolen entstanden, in denen die jeweilige Urbanisierungspolitik bewusst das Entstehen monoethnischer Stadtviertel verhindert und Bevölkerungen vermischt. Auf diese Weise konnten Lagos und Kinshasa, die beiden größten Metropolen Afrikas südlich der Sahara und beide ausschließlich das Produkt von Wanderbewegungen der vergangenen 100 Jahre, nigerianische und kongolesische Identitäten prägen in einer Art, wie es Hauptstädte mit älterer Geschichte nicht vermocht haben.
Daher gibt es auch keine verlässlichen Angaben darüber, wie viele Afrikaner als Migranten in der Fremde leben. Wo eine koloniale Grenze ein soziologisch zusammenhängendes Gebiet durchschneidet, ist der Begriff Auswanderung für Bewegungen innerhalb dieser Zone missverständlich. Hingegen kann in einem großen Flächenstaat eine Wanderung von einem Ende des Landes zum anderen durchaus Migration im klassischen Sinne bedeuten, ohne in irgendwelchen Statis-tiken aufzutauchen.
Die zwei Millionen Menschen aus dem Südsudan, die in den Jahrzehnten des Bürgerkrieges in ihrer Heimat in Armenviertel rund um Sudans Hauptstadt Khartum zogen, sind eher noch Migranten als diejenigen, die zu Bevölkerungen derselben Volksgruppen über die Grenzen nach Uganda zogen. Zwischen Ghana und Togo, zwischen Senegal und Gambia, zwischen Malawi und Mosambik, zwischen Somalia und Äthiopien gibt es undokumentierbare Wanderbewegungen, die zwar Grenzen überqueren, aber ansonsten wenig mit Migration zu tun haben. Kein Mensch in Kinshasa und Lagos ist wirklich ursprünglich aus Kinshasa oder Lagos, wenn er mehr als ein paar Generationen zurückblickt.
Es kommt vor, dass plötzlich eine Regierung aus Gründen der nationalistischen Aufhetzung oder zur Schwächung eines politischen Gegners beschließt, ganze Bevölkerungsgruppen als Ausländer zu diskriminieren und gar aus dem Land zu werfen, weil sie auch im Nachbarstaat zu finden sind und als dessen fünfte Kolonne für die eigene Misere verantwortlich gemacht werden können. Angola hat in den vergangenen Jahren Zehntausende Diamantenschürfer aus dem Kongo brutal hinausgeworfen, Kongo jagt periodisch seine aus Ruanda stammende Minderheit. Nigeria wies zu Zeiten der Militärdiktatur in den 80er-Jahren drei Millionen Menschen nach Benin, Togo, Kamerun und Ghana aus. Gabun und Libyen warben erst Wanderarbeiter an und trieben sie dann wieder hinaus.
Der seit 2002 anhaltende Bürgerkrieg in der Elfenbeinküste hat damit zu tun, dass der amtierende Präsident Laurent Gbagbo sich nur dadurch per Wahlen halten kann, wenn er Nachfahren von Einwanderern aus dem heutigen Burkina Faso und anderen Nachbarländern die Staatsbürgerschaft verweigert, obwohl die Migration in die heutige Elfenbeinküste zu einem Zeitpunkt erfolgte, als all die heutigen Staaten des frankofonen Westafrika bloß Verwaltungsdistrikte eines einzigen Kolonialgebiets waren.
Die Massenwanderungen der Kolonialzeit waren meist erzwungen: aus der Sahelzone in die Kaffee- und Kakaoplantagen der Küste, aus den Hochländern des südlichen Afrika in die Gold- und Diamantenminen der Region. In Südafrika dauerte diese Praxis bis Ende der Apartheid 1994 an. Wer erst zur Wanderung gezwungen wird und dann auch noch weniger Rechte hat, wird auch dann aufsässig, wenn er erst durch die Wanderung einen Job mit regulärem Einkommen erhält. Ökonomisch sind afrikanische Migranten meist privilegiert gegenüber den Daheimgebliebenen, zumal wenn sie aus Elendsgegenden mit kollabierender Subsistenzwirtschaft kommen.
Im Gegensatz zu ökonomischer Migration ist reine Flucht, bei der die Zurückgebliebenen besser dran sind als die Gehenden, in Afrika eher schlecht angesehen. Manche Phänomene der Migration gehen jedoch auf wiederholte Fluchtbewegungen zurück, die zu Wanderroutinen werden. Die Auswanderung aus Somalia oder Ruanda in die Nachbarländer erklärt sich auf diese Weise; der verheerende Biafra-Krieg in Nigeria machte das Igbo-Volk zum wander- und handelsfreudigsten der Region. Aber gerade solche Migranten sind im Zielgebiet meist am unbeliebtesten. Ruander sind im Kongo genauso wenig willkommen wie Somalier in Kenia oder Igbos im Norden Nigerias. Afrikas Staaten müssen erst noch damit umgehen lernen, eine unstete Bevölkerung mit starren Grenzziehungen zu versöhnen. Der Traum, dies durch Aufhebung der Grenzen und die Einheit Afrikas zu verwirklichen, scheint heute trotz wiederholter Bekenntnisse zur afrikanischen Einheit unerreichbar fern. Solange das so bleibt, wird das Phänomen Migration in Afrika widersprüchlich bleiben, ein permanenter Stachel der Veränderung.